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       # taz.de -- Flucht nach Europa: Träume der Piazza della Libertà
       
       > Im norditalienischen Triest kommen Tausende Flüchtende an, die auf der
       > Balkanroute Gewalt erlebt haben. Immer mehr finden kein Obdach in
       > Italien.
       
   IMG Bild: Eine Familie schützt sich auf der Piazza della Libertà vor dem Regen
       
       Triest taz | „In Griechenland brach die Polizei den Frauen und Kindern Arme
       und Beine. Ich sah Männer, die nackt zur türkischen Grenze zurückkehrten.“
       Mohammed* spaziert zwischen hohen Bäumen, während er sich erinnert. „Meine
       Reise hat acht Monate gedauert. In der iranischen Wüste habe ich zehn Tage
       lang gehungert.“
       
       Vor eineinhalb Monaten kam der 27-jährige Pakistaner in Campo Sacro
       nördlich von Triest an. Hier ist er in einem der Häuser des Pfadfinderheims
       „Alpe Adria“ untergebracht – so wie viele Asylsuchende, die hier und in
       Triest auf ihre Weiterreise in andere Teile Italiens warten.
       
       In Pakistan sei Mohammed professioneller Kricketspieler gewesen. „Aber hier
       ist es ohne Dokumente schwierig, irgendetwas zu tun“, sagt er und begrüßt
       eine Gruppe von Jungen, die zwischen den Bäumen vor der Küche des Wohnheims
       Fußball spielen. Er habe sich dazu entschieden, in Italien zu bleiben. „Ich
       wünschte nur, es gäbe mehr Respekt vor den Menschen“, sagt er, bevor er zum
       Mittagessen ins Gebäude geht.
       
       Seit Jahrhunderten ist Triest mit seinem bedeutenden Hafen Treffpunkt
       unterschiedlicher Kulturen. Heute ist die norditalienische Stadt
       Drehscheibe für Menschen geworden, die aus Ländern wie Afghanistan, Iran
       oder Irak über die Balkanroute nach Europa gelangen wollen. Sie nennen
       diese Route auch „the game“, denn wenn sie an der EU-Grenze abgewiesen
       werden, müssen sie zurückkehren und es erneut versuchen.
       
       ## In Triest ist der Umgang mit Flüchtenden humaner
       
       Von der Straße, die vom Hügel von Campo Sacro ins Zentrum von Triest führt,
       kann man das Meer sehen. An klaren Tagen ist die gegenüberliegende Küste
       Sloweniens zu erahnen – fast so, als gäbe es in diesem Europa keine
       Grenzen.
       
       Doch die Menschen, die über die Balkanroute kommen, haben diese Grenzen
       allesamt zu spüren bekommen. Triest ist für viele die erste Stadt, in der
       sie nach der Gewalt und dem Missbrauch, die sie in Kroatien oder an der
       griechisch-türkischen Grenze erlitten haben, Hilfe und Gastfreundschaft
       erfahren.
       
       Hilfestellung gibt auch Davide Pittioni, Mitarbeiter des [1][Italienischen
       Solidaritätszentrums (ICS)] in Triest. „Es gibt Menschen, die seit mehr als
       einem Monat auf der Straße leben und auf ein Bett warten. Diese Situation
       wurde der Präfektur und dem UNHCR bereits acht Mal gemeldet“, sagt
       Pittioni, während er das Tagesaufnahmezentrum, einen Steinwurf vom Bahnhof
       und der Piazza della Libertà entfernt, betritt.
       
       Zwei Jahre lang war die Einrichtung geschlossen, weil sich die Praxis
       durchgesetzt hatte, Migranten an der slowenischen EU-Grenze abzuweisen und
       zurückzuschieben. Im Januar 2021 erklärte der Europäische Gerichtshof in
       Rom diese Praxis für rechtswidrig.
       
       ## Ein Bett für drei Nächte, Dusche, Essen und Infos
       
       So wurde die Einrichtung am 10. August wiedereröffnet. Seitdem bekommen die
       Menschen beim ICS wieder ein Bett für drei Nächte, eine Dusche, Mahlzeiten
       und rechtliche und soziale Informationen. „Wir versuchen, eine
       menschlichere Atmosphäre zu schaffen“, sagt Pittoni.
       
       Laut dem letzten ICS-Bericht (2021) kamen im vergangenen Jahr 6.489
       Menschen in Triest an. Die letzten vom ICS gesammelten Daten zeigen, dass
       sich im Sommer 2.000 und in den Monaten davor 1.500 Flüchtende in der Stadt
       aufhielten.
       
       „Doch nicht alle Personen werden erfasst“, fügt Pittioni hinzu. „Jeden Tag
       kommen 50 bis 70 Menschen in Triest an, das sind 400 mehr als im letzten
       Jahr“, berichtet ICS-Präsident Gianfranco Schiavone. Seit einem Monat
       würden 150 Menschen auf der Straße schlafen, da sie auf den Beginn ihres
       Asylverfahrens warteten.
       
       Das Innenministerium habe erklärt, dass es nicht genügend Plätze für alle
       gebe, so Schiavone. Er macht politisches Desinteresse für die Situation
       verantwortlich, aber auch politisch motivierte Angstmache vor Asylsuchenden
       in der Bevölkerung.
       
       Auf der Piazza della Libertà ist die Sonne fast untergegangen, der
       Feierabendverkehr schiebt sich durch die Straßen mit ihren weißen, strengen
       Gebäuden. In einer langen Schlage warten Menschen auf ihr Abendessen – es
       gibt Brot und Hühnchen.
       
       ## Angst und Streifschuss auf der Balkanroute
       
       Auf einer Bank sitzt Hejar. „Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mitten im
       Wald mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden gelegen habe“, erzählt er.
       „Die kroatische Polizei hielt mich in der Nähe der slowenischen Grenze
       vielleicht zwei oder drei Stunden lang fest. Ich hatte große Angst.“
       
       Der 35-jährige Kurde hat vor einem Monat sein Dorf in Bakur im Südosten der
       Türkei verlassen, wo er Verfolgung durch das Erdoğan-Regime fürchtete. „Die
       Polizisten sagten mir, dass ich gehen könne, aber nur wenige Meter von
       ihnen entfernt hörte ich einen Schuss und spürte einen Schmerz in meinem
       Gesicht. Eine Kugel streifte mich und brach mir die Nasenscheidewand“, sagt
       Hejar mit immer noch erstauntem Gesichtsausdruck. Solche Gewalt durch
       kroatische Grenzpolizisten [2][bestätigen zahlreiche Berichte].
       
       Der Mann lässt sich auf einer Bank nieder, seufzt tief und berührt die
       Augenbinde, die ihm einer der Freiwilligen angelegt hat. Da kommt Said aus
       einer kleinen Stadt in der Provinz Isfahan im Iran dazu.
       
       „Mir fehlte nichts außer der Freiheit“, sagt Said über sich selbst und
       lächelt wehmütig. 2018 habe er sich den Protesten gegen die iranische
       Regierung angeschlossen. „Seitdem bin ich in Schwierigkeiten.“ Nach zwei
       Jahren in der Türkei seien seine Papiere abgelaufen, deshalb habe er
       beschlossen, zu seinem Onkel nach Europa zu gehen. „Ich hätte nicht
       gedacht, dass ich einmal auf der Straße leben würde“, sagt Said.
       
       ## Helfer angezeigt wegen „Beihilfe zu illegaler Einwanderung“
       
       Auch Lorena Fornasir und ihr Ehemann Gian Andrea Franchi wollen helfen.
       Deshalb haben sie die Organisation Linea d’Ombra gegründet. Auf der Piazza
       della Libertà versorgen sie an diesem Tag die Wunden der Menschen, die nach
       monatelanger oder jahrelanger Reise über die Balkanroute in Triest Halt
       machen – laut Franchi seit fast drei Jahren jeden Tag.
       
       „Diese Menschen haben kein Essen, keine Schuhe, sie bekommen keine Hilfe“,
       sagt Franchi. Dabei desinfiziert er eine Wunde am Arm eines pakistanischen
       Jungen. „Im letzten Jahr haben wir eine Anzeige wegen Beihilfe zur
       illegalen Einwanderung bekommen.“ Um fünf Uhr morgens habe die Polizei vor
       der Tür gestanden. „Aber kurz darauf wurde die Anzeige abgewiesen, weil es
       keine Gründe gab.“
       
       „Für uns ist das hier die Mitte der Welt, wo Menschen von überall her
       zusammenkommen“, fügt Fornasir hinzu und gibt einem kleinen Mädchen, das
       mit seiner Familie aus Rojhilat im kurdischen Gebiet des Iran unterwegs
       ist, ein Bonbon.
       
       Italienische Behörden drängten sie dazu, ihre Hilfsaktion an einen anderen
       Ort zu verlegen – ohne zu sagen, an welchen. „Wir haben uns um Tausende von
       Menschen gekümmert“, so Fornasir. „Wenn uns die Behörden wegschicken
       wollen, werden wir uns wehren.“
       
       *Namen geändert
       
       Aus dem Englischen: Jana Lapper
       
       21 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.icsufficiorifugiati.org/
   DIR [2] /Kroatien-schottet-die-EU-Aussengrenze-ab/!5804009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alessia Manzi
       
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