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       # taz.de -- Premiere des Jungen DT im Klassenzimmer: Realness oder Fake
       
       > Wie erkennt man Fakenews? Was erzeugt Glaubwürdigkeit? Darum dreht sich
       > „Vakuum“, ein Stück des Jungen DT, das an einem Gymnasium Premiere hatte.
       
   IMG Bild: Die freshe YouTuberin blynkzno (Juli Niemann) und der Metaverse-Emo Orino (Christopher Eckert)
       
       Als die Schüler:innen des Leistungskurses Geschichte ihr Klassenzimmer
       im Kreuzberger Hermann-Hesse-Gymnasiums betreten, ist Schauspielerin Juli
       Niemann schon da. Denn gleich beginnt die Uraufführung des Stückes „Vakuum“
       von Maria Ursprung, eine Auftragsarbeit [1][des Jungen DTs (Deutschen
       Theaters)].
       
       Sobald die Türe zugeht, spricht sie die Elftklässer:innen in der Rolle
       der überdrehten YouTuberin blynkzno direkt an: „Wer von euch würde gerne
       Influencer:in werden?“, fragt sie. Und: „Was machst du, wenn dich
       jemand anlügt?“
       
       blynkzno verdient ihr Geld damit, im Internet über Verschwörungstheorien
       und Fakenews aufzuklären. Wobei es ihr natürlich nicht um das Geld gehe,
       sondern um die Sache, also die Wahrheit, drum sei sie ja, Blick zum Lehrer,
       hier. Nur, was ist das schon, „die Wahrheit“? Nach und nach wird klar, dass
       es vor allem das ist, was glaubwürdig erzählt ist. Und das heißt hier auch:
       Welche Performance überzeugt.
       
       Der Grat zwischen Langeweile und too much ist von Haus aus schmal in einem
       Klassenraum. Weitab von der schützenden Aura des Theaterhauses, ist die
       Sensibilität ohnehin schon hoch für unfreiwillige Komik. Wird nicht
       glaubwürdig performt, wird gekichert, getuschelt, gelästert und geguckt.
       Wer nicht real ist, ist peinlich, und auf Realness muss man erstmal
       abgecheckt werden.
       
       In famos gespielter Verpeiltheit platzt auf einmal Christopher Eckert als
       Orino in den Klassenraum. Die Aufmerksamkeit ist Orino sichtlich unangenehm
       und einen Moment lang herrscht echte Verwirrung unter den Schüler:innen. Er
       suche seinen Bruder Acaan (Niklas Wetzel), den die Klasse nur per
       eingespieltem Video zu Gesicht bekommt. Denn Acaan ist ins Metaverse
       umgezogen. Zumindest behauptet Orino das.
       
       ## Der Wert der Komplexität
       
       Wenig später wird genau dieser Auftritt Orinos von blynkzno analysiert:
       „Gut funktioniert hat das überemotionale Erzählen. ‚Mein Bruder ist spurlos
       verschwunden.‘ Verantwortung. Verwandtschaft, Blut und so. Altmodisch, aber
       effektiv.“ Orino ist in Wahrheit blynkznos Kameramann und Kollege. Der
       verlorene Bruder, die Orientierungslosigkeit – alles nur gespielt! „Nichts
       ist wie es scheint“, sagt Orino, was die Schüler:innen als Digital
       Natives natürlich längst kapiert hätten.
       
       Und klar haben sie das. Weniger auf der Handlungsebene vielleicht, denn dem
       Stück ist in der Inszenierung von Romy Weyrauch nicht immer gut zu folgen.
       Aber, viel wichtiger, beim Wie des Gezeigten. Denn dort liegt auch der
       interessanteste Dreh von „Vakuum“: in der Parallelstellung der
       Glaubwürdigkeit eines Fakes oder Fakts und jener der Figuren und ihrer
       schauspielerischen Darbietung. Real ist, wer real ist, könnte man sagen.
       
       Natürlich glaubt nach anfänglicher Verwirrung niemand „wirklich“ an Orino
       und seinen im Metaverse verlorengegangenen Bruder. Aber sein Auftritt ist
       so überzeugend gespielt, so real, dass man innerhalb der Diegese erst zu
       zweifeln beginnt, als blynkzno Orino für diese Behauptung auslacht. Immer
       wieder relativieren sich die Figuren gegenseitig und halten so Komplexität
       als Wert an sich hoch. Und wenn die Figuren selbst nicht auf die
       Partikularität ihres eigenen Standpunkts verweisen, dann tun es die
       Schüler:innen.
       
       Die nehmen die Aufforderung zum Mitspielen nämlich an. In teenagertypisch
       lässiger Vorbehaltlichkeit liefern sie sich vor allem mit Juli Niemann
       lustvolle Schlagfertigkeits-Battles. Dass dabei oft die Schüler:innen
       die Lacher einheimsen, passt. In wirkliche Verlegenheit kommen Christopher
       Eckert und sie nicht. Und als die ausgebildete Sängerin einmal zu singen
       beginnt, fällt auch die letzte Kinnlade aus den ansonst so abgeklärt
       schmunzelnden Gesichtern.
       
       ## Ästhetische Kompetenz
       
       Dass der Mensch nur dort ganz Mensch sei, wo er spielt, wie Schiller das in
       Bezug auf das Ästhetische meinte, ist bestimmt, nun ja, ein bisschen too
       much. Spielerische Offenheit und ästhetisches Reflexionsbewusstsein sind
       angesichts einer hochkomplexen Gegenwart aber sicher nützliches Skills,
       nicht zuletzt im Internet, wo im Übermaß an Information und
       Falschinformation die Grenzen zwischen Realität und guter Performance
       manchmal zu verschwimmen scheinen.
       
       Nötig hätte der Leistungskurs Geschichte des Hermann-Hesse-Gymnasiums diese
       Skills freilich nicht. Im internen Nachgespräch beschreiben die
       Schüler:innen sehr präzise, wie sie im Netz Fakten von Fakes
       unterscheiden. Aus der Reserve gelockt hat sie das Stück damit zwar nicht,
       unterhaltsam fanden sie es allemal.„Die waren normal“, meint ein Schüler.
       Nach dieser Stunde des ständigen Hinterfragens auch der eigenen
       schauspielerischen Glaubwürdigkeit ist das als großes Lob zu verstehen.
       
       24 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Valentin Wölflmaier
       
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