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       # taz.de -- Tocotronic spielten in Berlin: Reise durch die End-90er
       
       > Tocotronic spielten im Berliner About Blank. Eine Zeitreise ohne
       > Nostalgie, dafür aber voll rockiger Melancholie und einem Hauch
       > Koketterie.
       
   IMG Bild: „So jung werden wir uns nicht mehr wiedersehen“ heißt es bei der allerletzten Zugabe
       
       Es wird kälter und dunkler in Berlin. Doch im Innenhof des About Blank
       spürt man an diesem Mittwochabend kaum was davon. Auf der Bühne flackert es
       immer wieder hell auf. Und warme Riffs dröhnen durch die Boxen. Tocotronic
       ist am Start. Und wie sie das sind! Zurück zum Ursprung, zu den ersten
       Tocotronic-Jahre wollen sie mit dem Publikum heute gehen. Und dieses ist
       sowas von bereit.
       
       „Dieses Konzert ist das Nachholprogramm eines Nachholprogramms“, erklärt
       Dirk von Lowtzow. Wegen Corona und so. Böse Zungen würden behaupten, es sei
       eine Wiedergutmachung an die Fans. Für das von einigen Fans nicht ganz so
       gut aufgenommene „Nie wieder Krieg“, ihr letztes Album, das heute nicht
       gespielt wird. Oder ist es etwa ein Anflug von Midlife-Crisis?
       
       Nostalgisch wird es jedenfalls nicht, obwohl die Band nur „The Hamburg
       Years“ spielt – alles nur Songs von 1995 bis 2002. In chronologischer
       Reihenfolge. Doch der Grund dafür ist ja auch irgendwie egal. Denn: „In den
       ersten drei Songs geht es um Hass, Freundschaft und Liebe.“ Spätestens als
       Frontsänger und Gitarrist Dirk das ins Mikro raunt und die Distortion
       hochdreht, fragt niemand mehr nach dem Warum. Es heißt nur noch „Let there
       be rock.“
       
       ## Kalt, aber man spürt es nicht
       
       Tocotronic spielt im Innenhof des Blank, es ist kalt, aber man spürt es
       nicht. „Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse“, singt Dirk über Freiburg,
       und hat alle in seinem Bann.
       
       Die Hamburg Years sind für die vier Bandmitglieder schon lange her. Der
       Pony hängt bei Dirk, Arne und Jan trotzdem immer noch schräg über der
       Stirn. Außerdem ist da auch Rick McPhail, der damals noch gar nicht dabei
       gewesen war. Er reißt rechts von Dirk ein Solo nach dem anderen, bearbeitet
       das Tremolo und holt dann irgendwann sogar seine Blues-Harm raus.
       
       An Humor und gesundem Narzissmus fehlt es der Band auch heute nicht: „Jetzt
       kommt unser erstes jemals gespieltes Lied und unser bestes, würde ich
       sagen… auch so generell, was den Musikkanon angeht eigentlich das Beste,
       joa“, kokettiert Dirk überzeugt. Die Fans sind es auch. „Die Idee ist gut,
       doch die Welt noch nicht bereit“ singen sie fast lauter mit als die Musiker
       auf der Bühne.
       
       ## Die silber-grauen Strähnen
       
       „Danke Berlin, About Blank!“ Dirk formt mit seinen Händen ein Herz und
       meint es auch so. Im diesen „Tanzschuppen“, wie er das Blank nennt, sind
       wir wieder zurück in den Neunzigern – Jugenderinnerung für die meisten
       Menschen hier im Publikum. „Wir kennen uns ja schon etwas länger“, heißt
       es. Aber Tocotronic stellt sich gerne trotzdem nochmal vor.
       
       Wehmütig-nostalgisch fühlt sich das Konzert nicht an. Selbst nicht, als
       Dirk sich die silber-grauen Strähnen aus der Stirn streicht und die Chords
       von „Ich will Teil einer Jugendbewegung sein“ anspielt. Und weiß, dass er
       sich auf seine Fans verlassen kann. Die Zeit, dieses Konstrukt, das
       unterschwellig mitschwingt, sie tickt auch für Tocotronic unausweichlich.
       
       Cool bleiben sie trotzdem. Spielen ihre Songs, gehen von der Bühne, lassen
       das Publikum etwas zappeln und singen dann doch noch darüber, wie es zum
       Beispiel letztes Jahr im Sommer war. Dann stehen sie wieder lässig hinter
       der Bühne, überlegen zigaretterauchend, ob sie nochmal hochgehen. Natürlich
       entscheiden sie sich dafür.
       
       ## Das Dröhnen hält nach
       
       Schließlich ein drittes Mal Stimmen, Gitarre umhängen, Basssaiten anhauen,
       mit den Sticks den Takt vorgeben. „So jung kommen wir nicht mehr zusammen,
       so jung werden wir uns nicht mehr sehen, und ich find’ es zwar schön, doch
       ich weiß nicht genau, werden wir uns verstehen?“ Wer weiß das schon. Das
       scheint den meisten hier vor der Bühne im gefüllten Innenhof des Blank für
       den Moment ziemlich egal zu sein.
       
       Am Ende lässt Dirk seine verzerrte Gitarre gegen den Roland Verstärker
       gelehnt einfach stehen. Das Dröhnen des Feedbacks hält noch lange nach bei
       den begeisterten Fans, die heute Tocotronic bekommen haben, wie man sie am
       meisten mag: rockig, wütend-melancholisch, poetisch.
       
       23 Sep 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ruth Lang Fuentes
       
       ## TAGS
       
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