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       # taz.de -- Gründerin über Erinnerungs-Initiative: „Es hat etwas von einer Heilung“
       
       > Wer hat hier gelebt? Die Initiative Denk Mal am Ort besucht in Hamburg
       > Wohnungen von NS-Opfern.
       
   IMG Bild: Auch im Hamburger Grindelviertel luden Menschen zu sich ein, um an Verfolgte der Nazis zu erinnern
       
       taz: Warum gehen Sie in die früheren Wohnungen von Verfolgten der NS-Zeit,
       Frau Rolshoven? 
       
       Marie Rolshoven: Es geht uns darum, die Geschichte der Menschen, die in
       unseren Städten gelebt haben, erfahrbar zu machen. Das ist das, was da bei
       dem Projekt Denk Mal Am Ort passiert. Jedes Haus, jede Wohnung hat ja eine
       Geschichte zu erzählen. Dadurch, dass wir diese Geschichte an den Orten
       hören, wo die Menschen früher gelebt haben, ist es intimer, eindringlicher
       für die Menschen, die sie hören. Es gibt dann eine Verbindung mit der
       Person, mit der Familie. Und auch für die Menschen, die ihre Wohnungen
       öffnen, ist das eine starke Verbindung zu ihrem eigenen Ort.
       
       Das verlangt auch Menschen, die bereit sind, sich damit
       auseinanderzusetzen. 
       
       Meine Mutter, Jani Pietsch, die Historikerin und Künstlerin war, und ich
       hatten diese Idee aus Amsterdam von dem Projekt Open Jewish Homes und
       dachten: „Wir machen das einfach mal.“ Zu dem Zeitpunkt wussten wir auch
       schon, dass zum Beispiel aus meiner Wohnung in Berlin neun Menschen
       deportiert wurden, sodass wir gesagt haben: „Wir können das auf jeden Fall
       hier auch in der Wohnung machen.“ Wir waren erstaunt, dass 2016 zu dem
       ersten Vorbereitungstreffen gleich über 20 Menschen kamen und viele schon
       zu der Geschichte ihrer Wohnung recherchiert hatten.
       
       Geht das Nachforschen von den jetzigen Bewohner:innen aus oder von
       Nachfahren der Verfolgten? 
       
       Beides. Bei meiner Wohnung etwa war es so, dass wir seit 2016 mit einer
       Installation aus Archivdokumenten an die früheren Bewohner:innen
       erinnert haben. Wir werden aber auch weltweit angeschrieben von Menschen,
       die sagen: Meine Mutter hatte auch Familie in Berlin. Können Sie mir
       helfen? Viele sprechen ja auch gar kein Deutsch mehr, sodass sie gar nicht
       zurechtkommen würden mit den Archivunterlagen, die man finden kann. 2018
       hat uns eine Frau aus Argentinien, Claudia Samter, angeschrieben und
       wollte, dass wir ihr helfen bei der Suche nach der Familie ihrer Mutter.
       Und dabei kam heraus, dass ihre Cousine direkt in meiner Wohnung gewohnt
       hat.
       
       Wie ging es dann weiter? 
       
       Claudia Samter kam 2019 zu Denk Mal Am Ort nach Berlin, brachte
       Familienfotos mit und erzählte ihre Familiengeschichte. Dann wurde das
       Ganze natürlich noch mal viel lebendiger in dieser Wohnung, dadurch, dass
       man plötzlich auch ein Bild hatte von dieser Cousine. Und für sie war es
       auch sehr bewegend, wenn sie sich überlegte, dass das der letzte Weg war,
       den ihre Cousine hier gegangen ist, durchs Treppenhaus, über diese
       Türschwelle. Sie hat uns geschrieben, dass sie so dankbar ist, dass wir ihr
       die Möglichkeit gegeben haben, an diesen Ort zurückzukommen. Es hat etwas
       von einer Heilung, das sagen uns viele, die zurückkommen. Es entstehen
       Freundschaften. Mit Claudia schreiben wir uns seitdem und dann geht es auch
       nicht nur darum, was war, sondern auch um das, was jetzt ist: Was machen
       die Kinder? Wer bekommt ein Enkelkind?
       
       Wie hat dieses Treffen Ihr eigenes Leben in der Wohnung verändert? 
       
       Als ich einzog, bin ich in eine Ausstellung im Rathaus Schöneberg gegangen,
       „Wir waren Nachbarn“. Dort kann man lesen, wo die Menschen gelebt haben,
       die aus Schöneberg deportiert wurden. Ich war geschockt, als ich gelesen
       habe, dass aus der Wohnung neun Menschen deportiert worden waren. Es hat es
       für mich erleichtert, dass ich an sie erinnere, dass ich einmal im Jahr
       ihren Namen lese und Menschen mit mir an sie denken.
       
       Das Projekt hat Kreise gezogen, nach Frankfurt, München und jetzt Hamburg.
       Wie kam das? 
       
       Ich kenne aus Berlin ein Zeitzeugenehepaar, Petra und Franz Michalski, die
       seit Beginn an bei Denk Mal Am Ort dabei sind. Petra kommt aus Hamburg und
       ich habe ihr gesagt: Eigentlich wäre es ja schön, wenn du deine Geschichte
       auch mal in Hamburg erzählst. Die beiden sind sehr gut in Hamburg vernetzt
       und dann haben wir eingeladen: Wer hätte Interesse auch mitzumachen bei
       Denk Mal am Ort?.
       
       Und dann? 
       
       2022 war das erste Jahr in Hamburg, mit zwölf Veranstaltungen, das hat uns
       sehr beeindruckt. Mal sehen wie 2023 wird.
       
       28 Sep 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Friederike Gräff
       
       ## TAGS
       
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