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       # taz.de -- Thunberg für AKW-Weiterbetrieb: Der Greta-Schock
       
       > Es wäre ein Fehler, Atomkraftwerke abzuschalten und auf Kohle zu setzen,
       > sagt Greta Thunberg. Das bringt Weltbilder ins Wanken. Müssen wir
       > umdenken?
       
   IMG Bild: Klimaaktivistin Greta Thunberg ist ja schließlich nicht irgendjemand
       
       Stell dir vor, du warst schon immer gegen Atomkraft – und auf einmal kommt
       die große Heldin der Klimabewegung daher und sagt, Atom sei besser als
       Kohle. Und das mitten in der ohnehin aufgeheizten Diskussion über längere
       Laufzeiten für die deutschen Atomkraftwerke.
       
       „Wenn sie schon laufen, glaube ich, dass es ein Fehler wäre, sie
       abzuschalten und sich der Kohle zuzuwenden“, [1][hat Greta Thunberg in der
       Maischberger-Sendung gesagt] und mit diesem kurzen Satz ein ganzes Weltbild
       mit all seinen sicheren Gewissheiten ins Wanken gebracht. Jedenfalls meins.
       
       Muss ich jetzt umdenken und alles über Bord schmeißen, woran ich seit
       meiner Jugend am Bauzaun von Wackersdorf geglaubt habe? Müssen wir den
       Widerstand gegen eine extrem gefährliche Technik und gegen die
       zukunftsfeindliche Anhäufung von Atommüll doch aufgeben, nur [2][weil die
       Galionsfigur von Fridays for Future Kohlekraft noch gefährlicher] findet?
       Das wäre ziemlich niederschmetternd.
       
       Also erst mal durchatmen und nachdenken. Ist immer gut. Also, schauen wir
       genauer hin: Greta Thunbergs Äußerung wird jetzt natürlich von
       interessierter Seite übertrieben einseitig aufgebauscht. Da die junge
       Schwedin klüger ist als ihre neuen Fans von der FDP, hat sie keineswegs
       gesagt, dass die Atomkraft die Lösung all unserer Energieprobleme
       darstellt. Diese Lösung kann, da sind sich die meisten Aktivist*innen
       der Klimabewegung einig, nur im Ausbau der erneuerbaren Energien liegen.
       Und das bleibt auch richtig.
       
       ## Das große „Aber“
       
       Aber, und dieses Aber wird die Debatten der nächsten Wochen prägen, es gibt
       trotzdem ein Problem. Wenn es darum geht, wie wir mittelfristig unter dem
       Druck von Putins Krieg die Energieversorgung sichern, bis die Erneuerbaren
       das irgendwann vielleicht allein schaffen, ist Thunberg im Zweifel eher für
       längere Atomkraftnutzung als für noch mehr Kohleverheizung. Und das könnte
       reichen, um auch in Deutschland eine neue Dynamik auszulösen und die
       Anti-Atom-Haltung ins Kippen zu bringen.
       
       [3][Denn Thunberg ist ja nicht irgendjemand.] Jahrelang wurde sie,
       insbesondere auch von den Grünen, als wichtigste Sprecherin jener neuen
       Generation gefeiert, die sich ernsthaft und zu Recht um den Fortbestand der
       Menschheit sorgt und auf wissenschaftlich fundierter Basis radikale
       Maßnahmen zum Klimaschutz einfordert. Da kann man es jetzt schwer als
       abwegig abtun, wenn Thunberg etwas sagt, was ihren bisherigen Bewunderern
       nicht in den guten alten Kram passt.
       
       Da hilft es auch wenig, auf die skrupellose Verlogenheit eines Christian
       Lindner hinzuweisen, der den jungen Leuten von FfF einst empfahl, die
       Weltrettung gefälligst den Profis zu überlassen, und der jetzt ausgerechnet
       Greta Thunberg als Kronzeugin für seine Pro-Atom-Forderungen im Ampelstreit
       missbraucht. Natürlich macht Lindner das, weil es ihm jetzt einen Vorteil
       verschafft. Jeder andere würde das an seiner Stelle auch so machen. Wenn
       sich ein Arbeitgeberchef für mehr Einwanderung ausspricht, nehmen das auch
       Linke gerne auf, um ihre Pro-Asyl-Haltung zu untermauern, obwohl sie sonst
       nie auf Arbeitgeber hören. Das ist Politik.
       
       ## Keine Lösung
       
       Und weil Thunberg eben einen immensen Glaubwürdigkeitsbonus in den
       linksgrünalternativen Milieus genießt, schlägt ihre Äußerung so ein. Auf
       überzeugte Atomgegner wirkt das so verstörend, als hätte die Chefin der WHO
       plötzlich verkündet, dass Rauchen gar nicht so schlimm ist. Und, noch
       krasser: Auch in anderen, eigentlich ganz netten Ländern wie Frankreich
       oder Finnland fangen sie auch wieder mit dem Rauchen an! Mit staatlicher
       Förderung!
       
       Die Versuchung, da mitzumachen, ist groß. Die Atomlobby hat in der Politik
       noch viel mehr Freunde als die Tabaklobby. Der Kampf wird schwer. Sicher
       gibt es nach wie vor gute Argumente gegen längere Atomlaufzeiten. Aber die
       müssen überzeugend vorgetragen werden. Einfach „Weder Atom noch Kohle“ ist
       in der aktuellen Krise keine Lösung, weil das Massenarbeitslosigkeit und
       Blackouts riskieren würde.
       
       Und was sicher nicht reicht, ist zu sagen: Greta irrt hier ausnahmsweise –
       bei der Atomfrage hatten wir schon immer recht. Da muss schon mehr kommen.
       
       12 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/maischberger/status/1579788672228274179
   DIR [2] /Thunberg-fuer-Weiterbetrieb-deutscher-AKW/!5883864
   DIR [3] /Klimagipfel-in-Glasgow/!5808885
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lukas Wallraff
       
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