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       # taz.de -- Wahlen in der Türkei 2023: Machterhalt mit allen Mitteln
       
       > Im kommenden Jahr stehen in der Türkei Wahlen an. Gewinnt Erdoğan, wird
       > sich das Land wohl weiter zu einer islamischen Autokratie entwickeln.
       
   IMG Bild: Solidarität in Istanbul: Auch hier protestierten Menschen gegen den Tod von Mahsa Amini im Iran
       
       Istanbul taz | Der Zeitpunkt hätte unglücklicher nicht sein können.
       Während [1][im benachbarten Iran] seit vier Wochen Frauen auf die Straße
       gehen, sich den Schleier vom Kopf reißen und öffentlich verbrennen, schlug
       der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu vor wenigen Tagen vor,
       das Kopftuch im gesamten öffentlichen Dienst, also auch für Lehrerinnen,
       Richterinnen und alle anderen Berufsgruppen, freizugeben. Jede Frau soll
       sich verhüllen dürfen, Kılıçdaroğlu will das per Gesetz festlegen.
       
       In seiner Partei, der Republikanischen Volkspartei CHP, grummelte es
       vernehmlich, schließlich gehörte es jahrzehntelang zur DNA der CHP, gegen
       das Kopftuch im öffentlichen Dienst zu kämpfen. Doch nicht nur die
       innerparteiliche Kritik an seinem Vorstoß ließ den Parteichef schlecht
       aussehen, Präsident Recep Tayyip Erdoğan, sein langjähriger Gegenspieler,
       drehte Kılıçdaroğlu geradezu einen Strick aus seinem Gesetzesvorschlag.
       
       „Kılıçdaroğlu hat uns eine Vorlage gegeben, wir werden ein Tor daraus
       machen“, versprach der Präsident seinen Anhängern. Seine Antwort auf
       Kılıçdaroğlu: Ein neues Gesetz brauchen wir nicht, denn für die
       Kopftuchfreiheit haben wir, die regierende AKP, ja längst gesorgt. Aber
       wenn Kılıçdaroğlu es ernst meint, soll die CHP einer Verfassungsänderung
       zustimmen, um die Kopftuchfreiheit ein für alle Mal in der Verfassung
       abzusichern. Einer solchen Verfassungsänderung kann und will Kılıçdaroğlu
       aber nicht zustimmen, weshalb Erdoğan ihn nun als den Mann vorführen kann,
       der nur für die kommende Wahl in religiösen Kreisen nach Wählern fischen
       will.
       
       ## Der Wahlkampf in der Türkei hat begonnen
       
       Mit dem Ende der parlamentarischen Sommerpause hat in der Türkei der
       Wahlkampf für die Präsidentschafts- und Parlamentswahl im kommenden Juni
       begonnen. Diese hat eine strategische Bedeutung, die weit über die kommende
       Legislaturperiode hinausgeht. Gewinnt Erdoğan nach 20 Jahren an der Macht
       noch einmal die Wahl, dürfte die letzte Gelegenheit, seine islamisch
       untermauerte Autokratie an der Wahlurne zu beenden, vorbei sein.
       
       Nicht ohne Grund gaben zuletzt bei einer Anfang Oktober veröffentlichten
       Meinungsumfrage [2][des seriösen Instituts „Metropol“] 84 Prozent der sich
       selbst als säkular bezeichnenden BürgerInnen an, sie fühlten sich in ihrem
       Lebensstil bedroht. Gewinnt Erdoğan noch einmal, ist es mit der säkularen
       Demokratie in der Türkei wohl endgültig vorbei. Und das gerade jetzt, wo im
       Iran die Bevölkerung gegen die Mullahdiktatur auf die Straße geht.
       
       Noch vor einem Jahr sah die Opposition wie der sichere Sieger aus. Die
       Wirtschaftskrise in der Türkei hatte sich während der Pandemie voll
       entfaltet, der Wert der türkischen Lira hatte sich gegenüber Dollar und
       Euro halbiert und die Preise für Lebensmittel und Benzin schossen in die
       Höhe. Als die jährliche Inflation auf mehr als 80 Prozent kletterte, gingen
       die Umfragewerte für Erdoğan und seine Parteienallianz von AKP und MHP in
       den Keller. „Wäre vor einem Jahr gewählt worden, hätte Erdoğan ohne
       Wahlbetrug keine Chance mehr gehabt“, ist sich der türkische Journalist der
       [3][Oppositionszeitung Birgün], Mehmet A., sicher. „Heute sieht es dagegen
       schon wieder ganz anders aus.“
       
       Erstmals seit Langem lag die Parteienallianz von Erdoğans
       islamisch-konservativer AKP und der rechtsradikalen MHP bei der erwähnten
       Metropol-Umfrage vom 1. Oktober wieder knapp vor der Oppositionsallianz aus
       der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP und der rechtsnationalen IYI
       Parti. Zwar hat die Opposition mittlerweile ein Wahlbündnis von sechs
       Parteien gegründet, deren gemeinsames Ziel es ist, Erdoğan zu entmachten
       und die Präsidialdiktatur per erneuter Verfassungsänderung wieder in eine
       parlamentarische Demokratie zurückzuführen, doch von den sechs Parteien
       kommen wahrscheinlich nur die CHP und die IYI Parti über die
       Sieben-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament.
       
       Ob die Opposition eine Chance hat, wird wohl vor allem davon abhängen, wen
       sie als gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten nominiert. Bislang hat sich
       einzig CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu dazu öffentlich bereit erklärt. Doch die
       anderen Parteien zögern zu Recht, ihn zu nominieren. Er hat schon mehrmals
       gegen Erdoğan verloren und hätte auch jetzt kaum eine Chance. Der Grund
       dafür ist simpel: Kılıçdaroğlu gehört zur religiösen Minderheit der
       Aleviten, kaum ein sunnitischer Muslim würde ihn wählen.
       
       Schwache Konkurrenz 
       
       Viel besser wäre der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu, der
       Erdoğans Partei schon bei den Kommunalwahlen 2019 geschlagen hat. Imamoglu
       ist ein hervorragender Wahlkämpfer und nicht nur für die Kernklientel der
       CHP, sondern sowohl für gläubige Muslime wie für die Kurden eine gute
       Alternative. Um eine Chance zu haben, braucht die Opposition sowohl
       religiöse WählerInnen als auch die Unterstützung der Kurdenpartei HDP. Die
       kurdisch-linke „Partei der Völker“ HDP gehört zwar formal nicht zur
       Oppositionsallianz, hat aber bei den Kommunalwahlen in Istanbul auf einen
       eigenen Kandidaten verzichtet und stillschweigend Imamoğlu unterstützt.
       
       Doch Erdoğan hat vorgesorgt. Sowohl gegen Imamoglu wie auch gegen die HDP
       hat er die Justiz vorgeschickt. Gegen die HDP läuft vor dem
       Verfassungsgericht ein Parteienverbotsverfahren und gegen Imamoglu wurde
       ein absurdes Verfahren wegen angeblicher Beleidigung der staatlichen
       Wahlkommission angestrengt. Im November könnte Imamoglu verurteilt werden
       und wäre damit für die Wahl aus dem Rennen, und auch das Verfahren gegen
       die HDP könnte noch in diesem Jahr mit einem Parteiverbot enden.
       
       Mit einem neuen Zensurgesetz, das derzeit im Parlament beraten wird, will
       Erdoğan auch die letzte Kritik, die noch in den sozialen Medien möglich
       ist, unterdrücken. Während die HDP bereits als Ersatz eine Partei „Grüne
       Linke“ vorbereitet hat, käme als Präsidentschaftskandidat für die
       gemeinsame Opposition noch der Oberbürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş,
       oder ein unabhängiger Intellektueller in Frage. Beides wäre wohl weniger
       erfolgversprechend als Ekrem Imamoğlu.
       
       Billige Öl- und Gaspreise in der Türkei 
       
       Unterdessen hat Erdoğan sich vor allem durch sein geschicktes Taktieren
       angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine wieder in der
       Wählergunst hochgearbeitet. Zwar geht es den meisten Menschen in der Türkei
       wirtschaftlich immer noch sehr schlecht, doch im Vergleich mit Europa steht
       die Türkei plötzlich nicht mehr so übel da.
       
       Als Erdoğan vom erweiterten [4][EU-Treffen in Prag] zurückkam, tönte er,
       alle hätten Angst vor dem kommenden Winter, nur die TürkInnen müssten sich
       keine Sorgen machen. Dank billiger Lieferungen aus Russland sei nicht nur
       genug Öl und Gas da, die Preise könnten sogar sinken. Ein früherer
       CHP-Abgeordneter, Mehmet Ali Çelebi, der in diesen Tagen zu Erdoğans AKP
       übergelaufen ist, brachte eine weit verbreitete Stimmung auf den Punkt: „In
       diesen Zeiten, in der die Welt auf große Krisen zusteuert, brauchen wir
       eine starke erfahrene Führung. Eine wackelige Sechs-Parteien-Allianz können
       wir uns an der Regierung nicht erlauben.“
       
       13 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Frauenrechte-in-Iran/!5879321
   DIR [2] https://metropolegitimkurumlari.com/de/
   DIR [3] /Tuerkei-Istanbul/!111123/
   DIR [4] /Neue-europaeische-Gemeinschaft/!5886380
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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