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       # taz.de -- Milliardenpaket gegen die Gaskrise: Falsches Signal an Europa
       
       > Der „Doppelwumms“ ist nötig, darf aber nicht auf Deutschland beschränkt
       > bleiben. Die Bundesregierung muss sich für eine europäische Lösung
       > einsetzen.
       
   IMG Bild: Nur ein gemeinsames europäisches Vorgehen wird Putins kriegerischer Politik Grenzen setzen
       
       Wir stecken jetzt schon knietief in der Krise – in Deutschland und im Rest
       von Europa. Und der Winter wird hart. Wie hart, weiß keiner so genau. Aber
       klar ist, aus Russland wird kein Gas mehr fließen. Und mit Importen aus
       anderen Staaten werden wir es nicht vollständig ersetzen können.
       
       Für uns heißt das, dass wir massiv Gas einsparen müssen – bis zum Ende
       dieser Heizperiode mindestens 25 Prozent. Ein Kraftakt, den wir nur
       gemeinsam mit unseren europäischen Partnern schultern können.
       
       Neueste [1][Prognosen zeigen], dass die rückläufige wirtschaftliche
       Entwicklung in Deutschland die gesamte Eurozone in die Rezession führen
       kann. Das provoziert neben weiteren Preissteigerungen auch große soziale
       Folgen für ganz Europa. Gleichzeitig sind die Preise bereits so stark
       gestiegen, dass Menschen und Unternehmen dringend Unterstützung benötigen.
       
       Der „Doppelwumms“, wie es der Kanzler so schön ausgedrückt hat, ist daher
       absolut notwendig. Die Gaspreisbremse ist das richtige Mittel, um die
       exorbitanten Preisanstiege unter Kontrolle zu bringen und die Menschen mit
       ihren erschreckend hohen Energierechnungen zu entlasten. Motivation zum
       Gas- und Stromsparen bietet der Preisdeckel, weil er sich nur auf den
       Grundbedarf bezieht. Wer verschwenderisch verbraucht, zahlt deutlich mehr
       als Menschen, die zu fairen Preisen ihren Grundbedarf decken müssen.
       
       Aber wo bleibt der Doppelwumms für Europa? So wichtig und richtig die
       Entlastungspakete der Bundesregierung sind, mangelt es einigen in Berlin
       leider an der europäischen Perspektive. Noch schlimmer: In Brüssel
       blockierte die Bundesregierung sogar eine gemeinsame Preisdeckelung und
       gemeinsame Energieeinkäufe.
       
       Als die Spitzen der Ampelregierung ihr 200 Milliarden Euro starkes
       Hilfspaket am Tag vor dem europäischen Energieministertreffen verkündeten,
       fielen die Reaktionen auf dem Rest des Kontinents heftig aus. Der Begriff
       „Germany first“ machte in Brüssel die Runde und die
       Regierungschef*innen von Finnland, Estland und Polen haben durchaus
       einen Punkt, wenn sie der Bundesregierung vorwerfen, die europäischen
       Partner zu übergehen.
       
       Berlin hat [2][die europäischen Auswirkungen des Hilfspakets] zu wenig
       bedacht. Viele Mitgliedstaaten der EU haben bislang Hilfen beschlossen,
       doch sie alle kommen nicht einmal in die Nähe – von Umfang und Größe – der
       deutschen 200 Milliarden. Andere europäische Nachbarn können sich
       Hilfspakete in dieser Größenordnung nicht leisten. Wäre wenigstens der
       Stabilitäts- und Wachstumspakt schon reformiert, hätten auch andere Länder
       mehr Spielraum. Die Bundesregierung sendet das falsche Signal an die
       engsten Verbündeten: Die größte Volkswirtschaft Europas nutzt ihre
       finanzielle Macht für Maßnahmen auf nationaler Ebene, während sie
       notwendige europäische Lösungen verhindert. Die Blockade der Verstetigung
       [3][des Europäischen Kurzarbeiter*innengelds SURE] und [4][ein grüner
       Investitionsfonds] durch das Bundesfinanzministerium sind die jüngsten
       Beispiele.
       
       Über 50 Prozent der deutschen Exporte gehen in die EU. Es ist also in
       unserem ureigenen Interesse, auf europäische Lösungen zu setzen. Unsere
       Wirtschaft ist darauf angewiesen, dass auch bei den Nachbarn die Gaspreise
       bezahlbar bleiben und ausreichend Gas vorhanden ist. Denn wenn italienische
       Unternehmen pleitegehen, bekommen auch deutsche Unternehmen große Probleme.
       
       Hinzu kommt, dass ökonomisch starke europäische Staaten wie Deutschland die
       Preise für Gas auch für die anderen in die Höhe treiben. Weil j[5][edes
       Land für sich am Markt Gas einkauft], machen sich die Mitgliedstaaten
       gegenseitig die Preise kaputt – mit schwerwiegenden Folgen für Wirtschaft
       und Menschen in ganz Europa. Wenn wir den europäischen Binnenmarkt schützen
       wollen, müssen wir in der Europäischen Union gemeinsam und koordiniert
       vorgehen.
       
       Angesichts all der milliardenschweren Hilfspakete müssen wir uns
       klarmachen: Die Zeiten billiger Energie sind vorbei. Einen „Doppelwumms“
       kann es nicht jedes Jahr geben und die Energiekosten werden in den
       kommenden fünf Jahren in Europa deutlich höher sein als in den USA oder in
       Asien. Um mit der Konkurrenz auf den anderen Kontinenten mithalten zu
       können, müssen sich europäische Unternehmen darauf einstellen.
       
       Das bedeutet, Energie in Zukunft effizienter zu nutzen und Gas – und
       mittelfristig auch Kohle und Öl – durch andere Energieträger zu ersetzen.
       Für Verbraucher*innen brauchen wir europaweit Anreize für Einsparung.
       Ein europäisches Klimageld für alle Bürger*innen gekoppelt an den
       Verbrauch – wer weniger verbraucht bekommt mehr ausgezahlt – könnte darauf
       eine gute Antwort sein.
       
       Wir müssen unsere Abhängigkeit von Öl, Gas und Kohle schnellstmöglich
       beenden. Nur der massive Ausbau der erneuerbaren Energien wird uns wirklich
       aus der [6][fossilen Inflation] führen und unsere Wirtschaft zukunftsfähig
       aufstellen. Dazu brauchen wir gemeinsame europäische Investitionen, die
       über die bestehenden Programme hinausgehen. Bundeskanzler Olaf Scholz
       sollte sich auf dem EU-Gipfel in der kommenden Woche für einen europäischen
       grünen Investitionsfonds aussprechen. Das Programm NextGenerationEU zeigt,
       wie es geht.
       
       Nur ein gemeinsames europäisches Vorgehen wird Putins kriegerischer und
       erpresserischer Politik und der Marktmacht der Gaskonzerne echte Grenzen
       setzen. Die Europäische Union wird auf internationaler Bühne nur dann
       souverän und stark auftreten können, wenn sie nach innen wirklich
       zusammenhält. Jetzt ist nicht die Zeit für Alleingänge. „[7][You never walk
       alone]“, das sollte nicht nur für Deutschland gelten, sondern für ganz
       Europa.
       
       14 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/rezession-deutschland-herbstgutachten-101.html
   DIR [2] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/prag-eu-gipfel-101.html
   DIR [3] https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/sure-gewaehrleistungsgesetz-1754238
   DIR [4] https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/faq-gruenerklimafonds-1686006
   DIR [5] /Hilfe-in-der-Energiekrise/!5884024
   DIR [6] https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Schlaglichter-der-Wirtschaftspolitik/2022/04/04-im-fokus-fossile-inflation.html
   DIR [7] /Caritas-Praesidentin-ueber-Energiekrise/!5884259
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anton Hofreiter
   DIR Rasmus Andresen
       
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