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       # taz.de -- Vision einer neuen linken Politik: Kapitalismus kann man nicht heilen
       
       > An der TU Berlin diskutierten rund 1.000 Menschen über
       > Vergesellschaftung. Die Frage: Welche Alternativen zum Wirtschaftssystem
       > sind denkbar?
       
   IMG Bild: Mit Grundbedürfnissen soll keine Rendite erzielt werden
       
       Berlin taz | Vielleicht wird in den Geschichtsbüchern der Zukunft ja
       tatsächlich einmal stehen: Der demokratische Sozialismus begann in Berlin
       mit einem Volksentscheid. Nach der erfolgreichen Umsetzung von Deutsche
       Wohnen & Co enteignen gründeten sich zahlreiche Initiativen, die in
       verschiedenen Bereichen Vergesellschaftungen durchsetzten, bis zu einem
       Punkt, an dem der Kapitalismus Geschichte geworden war. Ausbeutung, Armut
       und das Privateigentum an den Produktionsmitteln gab es seitdem nicht mehr.
       
       Angesichts rechter Massenmobilisierungen, linker Grabenkämpfe und der
       gefühlten Übermächtigkeit global agierender Konzerne mag man das für naiv
       halten. Doch die Idee der Vergesellschaftung ist in der politischen Linken
       zurück. Davon zeugt, dass sich am Wochenende laut Veranstalter:innen
       1.000 junge und studentische Zuhörer:innen in den Hörsälen der
       Technischen Universität einfanden, um den Vorträgen der
       Vergesellschaftungskonferenz zu lauschen, die dort unter dem Motto
       „Strategien für eine demokratische Wirtschaft“ tagte. Das erklärte Ziel:
       Eine „bundesweite Vergesellschaftungsbewegung“.
       
       „Für uns stellt Vergesellschaftung den Kern einer neuen linken Politik
       dar“, sagte ein Sprecher des Organisationsteams gleich zu Beginn.
       Kämpferisch erklärte Hanno Hinrichs von Hamburg enteignet: „Es reicht
       nicht, die Spielregeln konsequenter umzusetzen, neue Regeln einzuführen
       oder die Teams auszutauschen. Wir müssen das Spiel beenden. Abpfiff. Die
       Saison der Konzerne ist vorbei.“
       
       In Panels und Workshops wurde der Begriff der Vergesellschaftung
       auseinandergedröselt. Die zentrale Lehre lautet wohl: Es gibt von ihr viele
       Formen, manche progressiv, manche reaktionär. „Auch im Kapitalismus sind
       alle abhängig von allen. Der Weltmarkt vergesellschaftet, nur tut er dies
       durch Privatisierung“, sagte etwa die Autorin Bini Adamczak. In einer
       folgenden Veranstaltung pflichtete der Sozialwissenschaftler Alex Demirovic
       ihr bei. Der Kapitalismus basiere auf der Enteignung fremder Arbeitskraft.
       Vergesellschaftung von links bedeute deshalb: „Wir eignen uns etwas an, was
       uns eigentlich schon längst gehört.“
       
       ## Demokratische Selbstverwaltung
       
       Vergesellschaftung – das kann also sowohl großflächige Enteignungen wie
       beim Volksentscheid von Deutsche Wohnen & Co enteignen (DWE) bedeuten, aber
       auch Rekommunalisierungen, also das Zurückkaufen bereits privatisierter
       Infrastruktur. Demnach wäre jede Zurückdrängung von kapitalistischen
       Strukturen Vergesellschaftung. Ob progressiv oder nicht, hängt auch davon
       ab, ob nach der Enteignung der Staat über das Eigentum entscheidet – oder
       ob es eine demokratische Selbstverwaltung gibt, wie sie etwa DWE anstrebt.
       Sebastian Durben vom Aktionsbündnis Uniklinik Marburg Gießen fasste
       zusammen: „Die Vergesellschaftung löst nicht alles, aber ohne
       Vergesellschaftung ist alles nichts.“
       
       Dass auch Arbeitskämpfe eine Form der Vergesellschaftung sein können,
       zeigte eine Veranstaltung zu den Pflegestreiks bei Charité und Vivantes
       2021. Diese stellten das durchökonomisierte Gesundheitssystem infrage,
       sagte Nadja Rakowitz vom Verein Demokratischer Ärzt:innen. Seit der
       Gesundheitssektor ab den 1980er Jahren dem Markt zugeführt wurde, seien
       auch kommunale Kliniken Kapitallogiken unterworfen worden. Das zeige, dass
       ein bloßer Wechsel der Eigentümerschaft nicht ausreiche. „Die Frage der
       Vergesellschaftung“ müsse „mit der der Finanzierung zusammen gedacht
       werden“.
       
       Die Pflegestreiks hätten dieses infrage gestellt. „Uns war die politische
       Dimension unseres Arbeitskampfes immer bewusst“, berichtete auch
       Intensivpflegerin und Verdi-Aktivistin Dana Lützkendorf. „Indem wir für
       bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, haben wir gefragt: Soll der Markt oder
       der Bedarf über die Finanzierung von Krankenhäusern bestimmen?“ Weil auch
       Verdi dieses System lange unterstützte, hätten die Beschäftigten auch
       Kämpfe in der Gewerkschaft führen müssen. „In gewissem Sinne haben wir uns
       unsere eigene Gewerkschaft angeeignet“, so Lützkendorf.
       
       Bemerkenswert immerhin, dass zu einer derart antikapitalistischen Konferenz
       auch viele Gewerkschafter:innen kamen. Verdi-Aktivist Knut-Sören
       Steinkopf sagte dennoch: „Bis die Gewerkschaften großflächige Enteignungen
       fordern, muss noch viel geschehen.“ Aber auch die Spannungen zwischen
       sozialen Bewegungen und der Linkspartei wurden deutlich. Kalle Kunkel von
       DWE sagte etwa, es sei ein „Riesenproblem, dass wir kein Verhältnis zu
       einer linken Partei haben, mit denen wir die nächsten Monate planen
       können.“
       
       Einig waren sich alle darüber, dass die zahlreichen Krisen der Gegenwart
       linke Antworten erforderten. Kämen diese nicht von links, würden Rechte
       „die Krisen auf die Schwächsten abwälzen, damit sich die Nächstschwächsten
       mit den Stärksten identifizieren können“, sagte Adamczak. Noch sei der
       Kampf nicht verloren, sagt Kunkel. „Wir müssen die Klassen- und
       Verteilungsfrage in den Mittelpunkt stellen.“
       
       9 Oct 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Timm Kühn
       
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