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       # taz.de -- Abdulrazak Gurnah „Nachleben“: Blutige Zivilisierungsmission
       
       > Das Werk von Abdulrazak Gurnah wurde hierzulande erst bekannt, als er
       > 2021 den Nobelpreis bekam. „Nachleben“ ist sein neuer Roman.
       
   IMG Bild: Askari-Relief auf dem Gelände der ehemaligen Lettow-Vorbeck-Kaserne in Hamburg-Jenfeld
       
       In den fast dreißig Jahren, die sie das Land nun besetzen, haben die
       Deutschen so viele Menschen getötet, dass die Erde von Schädeln und Knochen
       bedeckt und von Blut durchtränkt ist“, heißt es im aktuellen Roman von
       Abdulrazak Gurnah. „Nachleben“ ist exemplarisch für das Schaffen des seit
       Ende der sechziger Jahre in England lebenden Literaturnobelpreisträgers.
       
       Kaum ein Werk ist so unmittelbar mit dem dunklen Kapitel der deutschen
       Kolonialgeschichte verbunden wie das des 1948 auf Sansibar geborenen
       Romanciers. Dass es hierzulande nur wenigen bekannt war, bevor Gurnah dafür
       den Nobelpreis bekam, wirft ein Schlaglicht auf die Verdrängung der
       blutigen deutschen Vergangenheit.
       
       Sein erfolgreichster [1][Roman, „Das verlorene Paradies“,] 1994 für den
       Booker Prize nominiert, erzählt von Yusuf, der im deutsch kolonialisierten
       Tansania in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, an einen muslimischen
       Händler verkauft wird und mit diesem eine abenteuerliche Reise ins
       Landesinnere unternimmt.
       
       ## Verweis auf „Herz der Finsternis“
       
       Der Roman seziert in eindrücklichen Szenen den arabisch-indischen
       Imperialismus und verweist auf Klassiker wie Joseph Conrads „Herz der
       Finsternis“ oder John Miltons „Paradise Lost“. Die weißen „Herrenmenschen“
       bleiben darin eher Randfiguren, ihr blutiger Terror steht noch bevor.
       
       Gurnahs neuer Roman, auf Englisch 2020 erschienen, kann als Fortsetzung
       dieser Erzählung gelesen werden. Die Handlung setzt kurz nach der
       Jahrhundertwende ein, als der Osten Afrikas in der Hand der Europäer war,
       „wenigstens auf der Landkarte: Britisch Ostafrika, Deutsch-Ostafrika,
       África Oriental Portuguesa, Congo Belge“, wie es im Roman heißt.
       
       Gegen diese Kolonialisierung regt sich Widerstand, den das Kaiserreich
       äußerst brutal niederschlägt. Es ist vor allem die Schutztruppe, „eine
       Armee aus Askari genannten afrikanischen Söldnern unter dem Kommando von
       Oberst Wissmann und seinen deutschen Offizieren“, die das Land mit Gewalt
       und Tod überziehen.
       
       Im Mittelpunkt steht Hamza, ein junger Muslim, aus dessen Perspektive die
       unmenschlichen Verhältnisse im deutschen Kolonialheer geschildert werden.
       Hamza erlebt endlose Gewaltmärsche und wird Zeuge der perversen
       „Zivilisierungsmission“, bei der die Deutschen im Morgengrauen Frauen und
       Kinder metzeln, um am Abend Goethe, Schiller und Heine zu studieren.
       
       ## Brutalität der Kolonialisten
       
       Gurnah beugt sich in seinem Roman nicht voyeuristisch über die wilde Gewalt
       der Deutschen, sondern lässt sie an den Rändern aufscheinen. Gerade das
       gibt seiner Prosa eine überwältigende Kraft. Die Sprache ist schlicht und
       unprätentiös, geradezu nachdenklich. Diese zarte Poesie lässt die
       Brutalität der Kolonialisten in um so hellerem Licht erscheinen.
       
       Der von Eva Bonné elegant übersetzte Roman ist mit Kisuaheli und Arabisch
       gespickt und bildet so sprachlich die vielfältige koloniale Erfahrung im
       ethnischen melting pot Ostafrikas nach.
       
       „Nachleben“ ist ein klassisches Beispiel für Gurnahs politische Literatur,
       die einfache Antworten meidet. Sein Schreiben mündet nicht in der
       moralischen Anklage von Umständen oder Regimen, sondern im Beobachten der
       durch Zeit und Raum irrenden Körper. Dabei zeigt er, wie Macht korrumpiert,
       warum Wahnsinn regiert und dass Rassismus kein Phänomen der Neuzeit ist.
       Gurnah umkreist Phänomene der postkolonialen Gegenwart wie Flucht („Schwarz
       auf Weiß“), Ankommen („Ferne Gestade“), Identität und Erinnerung
       („Donnernde Stille“, „Die Abtrünnigen“).
       
       Hamza strandet auf seiner Odyssee in einer deutschen Mission und kommt mit
       Heinrich Heines Schrift „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in
       Deutschland“ von 1834 in Berührung. In der wird ein „deutscher Donner“
       angekündigt, der in dieser Geschichte über Ostafrika und später über ganz
       Europa rollen wird. Als in Versailles Ostafrika den Briten zugeschlagen
       wird, führt ihn das Schicksal zu einer anderen zentralen Figur, die die
       Grausamkeit der Zeit auf andere Weise zu spüren bekam.
       
       ## Bestialischer Terror der Deutschen
       
       Als er ihr sein Schicksal offenlegen muss, gesteht er entwaffnend: „Du
       erwartest eine vollständige Geschichte, aber ich habe nur Bruchstücke, und
       selbst die sind voller Lücken.“ In solchen Szenen macht Gurnah die
       zerstörerische Kraft des Kolonialismus konkret. Da versteht man, wie der
       bestialische Terror (nicht nur) der Deutschen die Existenz und Geschichte
       der Unterworfenen in Fetzen gerissen hat.
       
       Die existenzielle Erschütterung des Kolonialismus bleibt über Generationen.
       Die seelischen Verletzungen schreiben sich in Hamzas Linie bis ins „Dritte
       Reich“ fort, Gurnah muss dabei nicht allzu viel erfinden. Die Kontinuität
       des deutschen Terrors ist belegt und bekannt. Mit diesem Roman kommt man
       nicht mehr an ihr vorbei.
       
       18 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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   DIR Nobelpreis für Abdulrazak Gurnah: Von Sansibar bis Canterbury
       
       Gurnah widmet sich postkolonialer Identität. Dabei setzt er sich auch mit
       deutschem Kolonialismus auseinander. Das ist selten in Afrikas Literatur.