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       # taz.de -- Studie zu Autoritarismus: Eskalation in den Aberglauben
       
       > Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey analysieren in „Gekränkte Freiheit“
       > die neuesten autoritären Charaktere. Sie kommen erstaunlich alternativ
       > daher.
       
   IMG Bild: Querdenker, Verschwörungstheoretiker, Linke und Rechte Schulter an Schulter bei einer Corona-Demo
       
       Auf den Straßen der Städte und an unseren Kneipentischen ist in den
       vergangenen Jahren Erstaunliches geschehen: Menschen gingen für „die
       Freiheit“ demonstrieren und verbreiteten antisemitische
       Verschwörungstheorien. Sie vertiefen sich in Statistiken, begeben sich auf
       die Suche nach unterdrückten Wahrheiten, recherchieren mit aufklärerischer
       Versessenheit verborgene Fakten und hängen zugleich Aberglauben und
       Wirrköpfigkeit an. Nazi-Fahnen wurden geschwenkt, in deren Schatten
       tummelten sich aber viele, die sich als Verfolgte eines totalitären
       Unrechtsregimes wähnten.
       
       Mit Empörung wird ein übergriffiger Staat angeprangert, während im
       Hintergrund russische Fahnen flattern. Nicht wenige gerieten auf eine
       seltsame Spur, denen man das nicht unbedingt zugetraut hätte. Gewohnte
       Muster funktionieren nicht mehr gut, wenn Yoga-Hippies mit
       Bomberjackentypen und Weltrevolutionsfans mit Ausländer-raus-Krakeelern
       Straßenpartys feiern. Nur bizarrer Irrsinn? Oder gibt es dahinter doch so
       eine Art von Erklärungsmuster – eine neue Konstellation?
       
       Die Literatursoziologin [1][Carolin Amlinger] und der Baseler
       Soziologieprofessor [2][Oliver Nachtwey] verfolgen in ihrem Buch „Gekränkte
       Freiheit“ das Ziel, diese erstaunlichen Seltsamkeiten zu ergründen,
       versimpelte antifaschistische Annahmen infrage zu stellen. Die
       diagnostizieren eine Bewegung des „libertären Autoritarismus“, die
       sicherlich nur eine kleine Minderheit der Gesellschaften in ihren Bann
       zieht, aber einen relativ großen Resonanzraum hat, der weit über die Ränder
       der Radikalen hinausgeht. Dieser Autoritarismus ist aus ihrer Sicht
       signifikant anders als alles, was wir an autoritären Bewegungen in der
       Geschichte kennen. Salopp gesagt: Es gibt darin viel mehr
       Antiautoritarismus, mehr Individualismus und Antikonformismus, als das in
       früheren Bewegungen dieser Art üblich war.
       
       „Anders als klassische Rechte wollen die Menschen, die nun auf die Straße
       gehen, keinen starken, sondern einen schwachen, geradezu abwesenden Staat“,
       formulieren Autor und Autorin. Sie hängen auch keinem Führer an. Viele
       kommen aus alternativen oder auch gegenkulturellen Milieus oder zumindest
       aus sozialisierenden Umgebungen, in denen kritischer Eigensinn und
       Nonkonformismus prägend sind.
       
       ## Rebellen im Namen der Spätmoderne
       
       Sie rebellieren im Namen der zentralen Werte der spätmodernen Gesellschaft,
       nämlich „Selbstbestimmung“ und „Souveränität“. Sie haben sogar eine
       „grundlegende Skepsis gegenüber Autoritäten“, betrachten Freiheit als einen
       „individuellen Besitzstand“, sind an hedonistischen Werten orientiert.
       Feierte die alte Rechte das soldatische Opfer, kriegen die neuen
       Autoritären schon die Krise, wenn ihnen einmal ein Partywochenende entgeht.
       
       Die Studie von Amlinger und Nachwey ruht, grob gesprochen, auf drei Säulen:
       Erstens: empirischen Erhebungen – vor allem Interviews – die sie mithilfe
       ihrer Mitarbeiter*innen mit vielen Akteurinnen der Querdenkerszenen
       oder auch mit AfD-Sympathisanten geführt haben. Zweitens: einer breiten
       Textschau über knapp 200 Jahre Analyse des „autoritären Charakters“ und von
       Gesellschaftstheorie. Und drittens: ihrer These und Interpretation des
       Materials.
       
       Zentral ist für die Arbeit eine Relektüre der „Studien zum autoritären
       Charakter“, die Forschergruppen der Kritischen Theorie rund um Theodor W.
       Adorno während der vierziger Jahre in den USA erstellten. Die Erfahrung war
       damals noch frisch, dass despotische Herrschaft nicht nur auf Unterdrückung
       beruht, sondern auch auf Zustimmung und bereitwilliger Teilnahme – und dass
       diese autoritären Verlockungen auch in demokratischen Gesellschaften
       virulent sind.
       
       ## Konventionen statt Individualismus
       
       Die Studienautoren fanden damals verschiedene autoritäre Typen. Zentral
       waren Charaktere, die die Konventionen hochhielten, Individualismus
       ablehnten, Ordnung ersehnten und sich gerne personaler Autorität
       unterwarfen. Sie waren ja auch von autoritären Typen sozialisiert worden,
       etwa den vormals dominanten Vaterfiguren oder fiesen Lehrkräften.
       Sozialfiguren wie „der Rebell“ oder „der Spinner“ wurden auch seinerzeit
       schon entdeckt, waren aber gegenüber den konformistischen Autoritären eher
       peripher. Doch das hat sich massiv verändert. In den gegenwärtigen
       Bewegungen finden sich eher wenige überangepasste Menschen mit
       konservativ-konventionellen Werthaltungen.
       
       In den vergangenen Jahrzehnten hat sich ein individualistischer
       Liberalismus verbreitet, der „das Individuum ausschließlich im Gegensatz
       zur Gesellschaft“ definiert. Jeder vergleicht sich mit jedem und will etwas
       Besonderes sein und seine Eigenart verwirklichen. Dieses Versprechen der
       individuellen Selbstverwirklichung birgt aber „ein Kränkungspotenzial, das
       in Frustration und Ressentiment umschlagen kann“ (Amlinger/Nachtwey). Wenn
       etwas schiefläuft, ist „die Gesellschaft“, „der Staat“, „die Elite“, sind
       „die Herrschenden“ schuld. Man hat auch gelernt, alles zu „hinterfragen“,
       nichts einfach so zu akzeptieren.
       
       Amlinger und Nachtwey haben eine Nase für Ambiguitäten und sehen das
       Antiautoritäre im Autoritären. An sich gute Machtskepsis eskaliert ins
       destruktive Dauerdagegensein. Antiautoritäres Rebellentum paart sich mit
       Autoritarismus, denn bei vielen Typen finden sich „zahlreiche Merkmale der
       autoritären Persönlichkeit“, wie etwa „autoritäre Aggression, Kraftmeierei,
       Destruktivität, Zynismus, (verschwörungstheoretische) Projektivität und
       Aberglaube“.
       
       ## Der Kult des Erfolges
       
       Diese Eigentümlichkeiten des antiautoritären Autoritarismus haben ihre
       Quellen in gesellschaftlichen Tendenzen der vergangenen Jahrzehnte: Da ist
       die Krise der Repräsentation, da ist der Wettbewerb als dominanter
       Interaktionsmodus, der Kult des Erfolges; weiters der hohe Wert, der
       Genuss, Selbstverwirklichung und Selbstwert zugeschrieben wird, oder auch
       das seit den siebziger Jahren regelmäßig analysierte „Zeitalter des
       Narzissmus“ (Christopher Lasch). Werte wie Besonderheit,
       Selbstverwirklichung und Ich-Orientierung führen zu Groll, wenn man unter
       den Ansprüchen gegenüber dem eigenen Lebensvollzug bleibt. Der Narzisst
       wird schnell wütend, wenn sich nicht alles ausschließlich um ihn dreht.
       Kurzum: Die autoritäre Persönlichkeit der Gegenwart ist ein Kind ihrer
       Zeit, nicht der Vergangenheit. Statt Faschismus Fasch-ICH-mus quasi.
       
       Dabei wird ein Widerspruch zwischen Freiheit und Gesellschaft virulent, der
       natürlich immer schon vorhanden war. Einst richtete sich der Ruf nach
       Freiheit gegen die absolutistische Monarchie, feudale Abhängigkeiten,
       staatliche Zensur, Willkür und Repression. Doch selbst im demokratischen
       Verfassungsstaat ist der Einzelne nicht gänzlich frei, alles zu tun, wonach
       ihm gerade ist. Der Widerspruch zwischen individueller Freiheit und
       bindender gesellschaftlicher Ordnung ist nie ganz aufzulösen. Der
       „Freiheitsgedanke“, das wusste schon der große Staatsrechtler Hans Kelsen,
       entspringt einem „staatsfeindlichen Urinstinkt, der das Individuum gegen
       die Gesellschaft stellt“. Der freie Bürger solle, so ist der Anspruch
       freier, demokratischer Gesellschaften, nur einem untertan sein, nämlich
       seinem eigenen Willen.
       
       „Die Querdenker:innen betrachten sich selbst als heroische Figuren in
       einem Wahrheitskonflikt, als wahrhaft kritische Aufklärerinnen, die
       unbeirrt für das Gute eintreten und dafür Opfer in Kauf nehmen“, so die
       Autoren. Wie in der griechischen Konzeption der „Parrhesia“ sehen sie sich
       als tugendhafte Wahr-Sprecher, „die persönlichen Risiken des
       Nicht-Verheimlichens“ auf sich nehmen.
       
       Konzeptionen, ohne die die Demokratie nicht auskommt, radikalisieren sie
       ins Destruktive. Machtkritik überschießt in verallgemeinertes Misstrauen,
       totale Ablehnung und Verleumdung, Freiheitspathos eskaliert in Rebellion
       gegen jede Vorgaben, sogar gegen vernünftige, der Wert von Selbstbestimmung
       in völlige Ichbezogenheit, und der kritische Impuls verkommt zum
       vollendeten Tunnelblick.
       
       Manches am Anti-Eliten-Getue klingt wie die alte linke Systemkritik, nur:
       mit allen ihren Lastern und keiner ihrer Tugenden. Mit so viel
       Rappelköpfigkeit, so lautet die implizite These, ist kein Staat zu machen,
       nicht einmal ein faschistischer. Wenn man will, so ist das eine beruhigende
       Diagnose.
       
       18 Oct 2022
       
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