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       # taz.de -- Stephan Lessenichs Sachbuch: Das Neue ist noch nicht normal
       
       > Der Soziologe untersucht in „Nicht mehr normal“ gesellschaftliche
       > Vorstellungen von Normalität. Norm und Normalität fallen oft auseinander.
       
   IMG Bild: Endlich normale Leute: gesehen bei einer Demonstration der AFD in Berlin im Oktober 2022
       
       Viele zuckten zusammen, als die AfD im Bundestagswahlkampf 2021 ihre
       zentrale Werbeparole verkündete. Denn sie war „leider gut“, [1][wie zum
       Beispiel Stefan Reinecke in der taz befand.] „Deutschland. Aber normal“,
       hieß das Motto, das im Fernseh-Spot gesetzt wurde, mit dem natürlich gegen
       alles mobilisiert wurde, wogegen die AfD halt so ist – aber auf der Folie
       dessen, was immer noch alle quält, ob rechtsradikal oder nicht: die
       Zumutungen und Unnormalitäten der Coronapandemie. Unter denen, die der AfD
       zugestanden, dass sie hier einen Punkt klug gesetzt hatte, war auch Stephan
       Lessenich.
       
       [2][Der Soziologe Lessenich, seit vielen Jahren auf renommierten
       akademischen Posten,] wurde im vergangenen Jahr zum Direktor des Instituts
       für Sozialforschung in Frankfurt am Main berufen – genau, des Instituts,
       das mit der [3][„Frankfurter Schule“] Generationen von kritischen
       GesellschaftsanalystInnen geprägt hat.
       
       In seiner ersten Veröffentlichung seit dem Jobwechsel nimmt Lessenich sich
       den Begriff der Normalität vor, wie er einerseits von AfD und Konsorten
       dafür missbraucht wird, Ängste und damit Ressentiments zu schüren – und
       andererseits doch auch zur gesellschaftlichen Selbstverständigung gebraucht
       wird. „Nicht mehr normal“, das sei das Selbstgefühl der deutschen
       Gesellschaft, weshalb sie dem Titel gemäß „am Rande des
       Nervenzusammenbruchs“ siedele.
       
       Es war dabei laut Lessenich das Coronavirus, welches den Begriff eines
       normalen Alltags so erschütterte, dass in den Klüften des allgemeinen
       Verständnisses dessen, was das Leben der meisten Leute zusammenhält, gleich
       noch die Widersprüche der sonstigen Großereignisse dieser Zeit
       wiederauftauchten, die eigentlich gütlich weggebügelt worden waren, siehe
       Finanz- und Migrationskrise. Russlands Krieg in der Ukraine hat Lessenich
       miterfasst, aber erkennbar war seine These schon vorher durchformuliert.
       
       ## Die alte Normalität hat Risse bekommen
       
       „Im Kern trügt das Gefühl ja nicht“, schreibt Lessenich. „Im Kern spüren es
       auch all jene, die man keineswegs zum harten Kern der Coronaleugner,
       Klimaskeptiker oder Fremdenfeinde zählen würde: Die alte Normalität hat
       Risse bekommen, sie ist brüchig geworden. An immer mehr Fronten verschieben
       sich die Grenzen des Sag- und Machbaren, immer mehr Gruppen meinen
       öffentlich mitreden zu müssen und politisch mitgestalten zu können.“ Das
       Neue sei schon da, aber eben noch nicht normal – „was Tür und Tor öffnet
       für unkalkulierbare gesellschaftliche Reaktionen“, darunter die zwischen
       Hysterie und Gewaltlust changierenden Angriffe etwa auf den Corona-Experten
       Christian Drosten.
       
       Sorgfältig arbeitet Lessenich heraus, dass Norm und Normalität durchaus
       auseinanderfallen – illustriert am schönen Beispiel des
       Normarbeitsverhältnisses, abgekürzt NAV. Das ist jene tarifgebundene,
       unbefristete, sozialversicherte Vollzeitarbeit, die in der alten
       Bundesrepublik vor allem von Männern verrichtet wurde.
       
       An dieser Norm richtete sich Jahrzehnte lang ein Großteil der Politik aus.
       Normalität war dagegen, dass der größere Teil der Bevölkerung, vor allem
       die meisten Frauen und viele MigrantInnen, ganz anders arbeiteten,
       „atypisch“ halt. Und Normalität war außerdem, dass alle gemeinsam diese
       Aufteilung schon in Ordnung fanden – was wiederum die typische Konstruktion
       von Normalität, von sozialer Akzeptanz ist.
       
       Diese stetige, bisweilen ruppige, insgesamt aber recht geschmeidige
       Konstruktion von bundesdeutscher Normalität geriet nun laut Lessenich
       spätestens 2008 mit der Finanzkrise ins Stottern. Diese sei mitsamt ihren
       Ursachen nie gelöst, sondern ihre nächste Runde bloß aufgeschoben worden –
       Lessenich folgt hier seinem [4][zuletzt ziemlich abgedrifteten
       Soziologen-Kollegen Wolfgang Streeck] mit dessen 2013 noch gut
       durchargumentierter These von der „gekauften Zeit“.
       
       Wobei Lessenich darauf hinweist, dass nicht nur die Hochvermögenden und
       SpekulantInnen auch aus der Bewältigung der Finanzkrise noch enormen Profit
       schlugen. Sondern, dass es auch die „besitzenden Mittelschichten“ sind,
       nämlich seine Leserschaft und alle anderen, die ebenfalls eine
       gewinnbringende Verwertung ihres Kapitalbesitzes anstreben, die als
       „Täteropfer“ die krisenhafte Dynamik verstärken.
       
       Analog zum Bild der gekauften Zeit beschreibt Lessenich die
       Migrationspolitik nach dem eindrücklichen Flüchtlingsjahr 2015, als die
       Republik in kürzester Zeit hunderttausende Menschen aufnahm, als „gekauften
       Raum“. Denn was die Merkelregierung teils im Alleingang, teils via
       EU-Institutionen unternahm, war ja ein schlichtes Draußenhalten: Mit viel
       Geld wurde die Türkei überzeugt, ein besseres Aufnahmeland insbesondere für
       Syrerinnen und Syrer zu sein, und Frontex wurde ausgerüstet, die
       Migrationsfrage noch im Mittelmeer zu klären oder in die libysche Wüste zu
       verschieben.
       
       Ein weiteres Kapitel des mehr oder weniger heimlichen Einverständnisses mit
       einer Politik, die auf existenzielle Probleme nur mit Verschiebung
       reagiert, ist natürlich die Klimakrise. So klar es ist, dass eine Ökonomie
       unter Wachstumszwang unsere Lebensgrundlagen vernichtet, so deutlich ist es
       doch, dass es auch Individuen unendlich schwer fällt zu schrumpfen, weniger
       zu wollen. Die Ressourcen, die zu vernutzende Natur würden dabei nicht mehr
       anderswo geklaut, schreibt Lessenich. Der Versuch etwa, Wasserstoff im
       großen Stil in Nordafrika für Europa zu gewinnen, sei immerhin ein
       Fortschritt hin zur „gekauften Natur“.
       
       ## Der pandemische Ausnahmezustand
       
       Der Ukrainekrieg schließlich wirft die Frage auf, was es dieses Mal zu
       kaufen gibt, damit halbwegs Ruhe ist. Hier hat Lessenich noch kein
       Stichwort parat. Der pandemische Ausnahmezustand, der uns die Widersprüche
       des Kapitalismus gleichzeitig hat spüren und doch auch verdrängen lassen –
       Hauptsache, das Kind ist gesund, lasst mich grad mal mit allem anderen in
       Ruhe – ließ die Hoffnung auf eine Rückkehr zur Normalität vielleicht noch
       zu. Danach sieht es nun mit dem Krieg in Osteuropa aktuell nicht mehr aus.
       
       Der „zutiefst irrationalen Rationalität“ der Gesellschaft (kursiv im
       Original) ist mit Lessenich nur die Kraft der Erkenntnis entgegenzusetzen.
       „Wir sind aufgefordert, die Macht der Illusion zu brechen – der Illusion,
       dass wir mit den alten Rezepten weiter-, ja auch nur ansatzweise
       durchkommen könnten.“ Wer darüber hinaus bei Lessenich Lösungen sucht,
       Auswege, konstruktive Ansätze, Politikvorschläge gar, wird in seinem Buch
       enttäuscht. Darin steht Lessenich in echter Tradition der Kritischen
       Theorie. Was immerhin auch eine kleine Form der Normalität ist.
       
       20 Oct 2022
       
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