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       # taz.de -- Studie zu Atomstrom: Atom-Ära geht allmählich zu Ende
       
       > Der Anteil der Nuklearenergie weltweit sinkt weiter. Während Deutsche
       > wegen maroder AKWs in Frankreich bangen, setzt China stärker auf
       > Erneuerbare.
       
   IMG Bild: China investiert mehr in erneuerbare Energien als in Atomkraftwerke
       
       Berlin taz | Eine symbolträchtige Entwicklung: Erstmals seit rund 40 Jahren
       wurde der Anteil der Atomkraft an der weltweiten Stromerzeugung im Jahr
       2021 wieder einstellig. Nur noch 9,8 Prozent des Stroms wurden durch
       Kernspaltung erzeugt; der historische Höchststand hatte im Jahr 1996 bei
       17,5 Prozent gelegen.
       
       Die Zahlen stammen aus dem am Mittwochnachmittag in Berlin vorgestellten
       [1][World Nuclear Industry Status Report] 2022 (WNISR). Herausgeber ist der
       renommierte Atomenergieberater Mycle Schneider, der den Report jährlich mit
       einem internationalen Team verfasst.
       
       Es zeigt einmal mehr den [2][Bedeutungsverlust des Nuklearstroms]. Dieser
       ergibt sich aus zwei Trends: Einerseits stagniert die atomare Erzeugung,
       andererseits steigt die weltweite Gesamtstromerzeugung an. Mit 2.653
       Milliarden Kilowattstunden (Terawattstunden, TWh) lag die absolute
       Erzeugung im Jahr 2021 weiterhin knapp unter dem historischen Höchstwert
       von 2006. Dabei kompensiert der Zubau an Reaktoren in China etwa den
       Rückgang der Atomstromerzeugung im Rest der Welt. Nach wie vor wird die
       Atomkraft von fünf Ländern dominiert, die 71 Prozent des gesamten
       Atomstroms erzeugen. Es sind – in dieser Reihenfolge – die USA, China,
       Frankreich, Russland und Südkorea.
       
       Die weltweite Stagnation zeigt sich auch an der Zahl der Reaktoren. Während
       im Jahr 2021 sechs Einheiten neu ans Netz gingen, drei davon in China,
       wurden weltweit acht Reaktoren abgeschaltet. Im Laufe des Jahres wurden
       zwei weitere Schließungen in Großbritannien angekündigt, aber die Reaktoren
       hatten seit 2018 ohnehin keinen Strom mehr erzeugt. Zur Mitte des Jahres
       2022 waren weltweit 411 Reaktoren in 33 Ländern in Betrieb – 4 weniger als
       ein Jahr zuvor. Der Höchststand lag im Jahr 2002 bei 438 Blöcken.
       
       ## Mehr Wind- als Atomstrom in China
       
       Ein wenig weichen die Daten des [3][WNISR] immer von jenen der
       Internationalen Atomenergiebehörde IAEO ab, die aktuell 426 laufende
       Reaktoren ausweist. Die Differenz ergibt sich durch eine unterschiedliche
       Bewertung jener Reaktoren, die seit Jahren keinen Strom mehr erzeugen.
       Immerhin nähert sich die IAEO offenbar der Sichtweise des WNISR an, indem
       sie in den vergangenen Wochen 12 japanische Reaktoren in die Kategorie
       „Langzeitstillstand“ überführte, die bislang noch als „in Betrieb“
       betrachtet wurden, obwohl sie zum Teil seit zehn Jahren keinen Strom mehr
       erzeugen.
       
       Selbst in China, dem Land des größten Zubaus an Atomkraft, werden Windkraft
       und Photovoltaik, gemessen an der jährlichen Stromerzeugung, längst
       intensiver ausgebaut als die Nukleartechnik. Die Windstromerzeugung lag
       daher im Jahr 2021 in China schon deutlich über der Atomstromerzeugung,
       die Photovoltaik wird angesichts großer Wachstumsraten die chinesische
       Atomkraft in wenigen Jahren überflügeln. Weltweit gingen laut Report im
       vergangenen Jahr 69 Prozent der Kraftwerksinvestitionen in die
       Erneuerbaren, nur 8 Prozent in die Atomkraft, der Rest in Fossile.
       
       Bei der Vorstellung betonte Herausgeber Schneider die Vorgänge in
       Frankreich, die auch für Deutschland von großer Bedeutung sind. Technische
       Probleme mit den alternden Reaktoren sorgen dafür, dass Deutschland derzeit
       per Saldo Strom nach Frankreich exportiert. In Frankreich wird die
       Atomstromerzeugung in der Jahressumme 2022 gegenüber dem Vorjahr um 60 bis
       80 TWh einbrechen.
       
       Der französische Winter hat damit für Deutschland eine enorme Bedeutung. Da
       Frankreich in großem Stil über schlichte Stromheizungen verfügt – „Typ
       Toaster“, wie Schneider sagte –, steigt mit jedem Grad, um das es in
       Frankreich kälter wird, der Stromverbrauch im Land um 2,4 Gigawatt an. Mit
       jedem Grad werden also etwa zwei Atomkraftwerke zusätzlich benötigt.
       
       Ein weiteres Schwerpunktthema des Reports ist diesmal die Abhängigkeit von
       russischem Uran und vor allem den russischen Brennelementen. In der
       Europäischen Union gibt es noch 15 Reaktoren vom russischen Typ WWER, in
       der Slowakei, Bulgarien, Tschechien, Finnland und Ungarn. Diese benötigen
       entsprechend spezielle Brennelemente. Nun werden diese zwar inzwischen
       auch von der amerikanischen Firma Westinghouse produziert, aber deren
       Kapazitäten reichen nicht aus, um alle europäischen Reaktoren zu versorgen.
       
       ## 204 Reaktoren weltweit stillgelegt
       
       Russland vergrößert unterdessen seinen globale Einflussbereich noch, indem
       das Land seine Reaktortypen weltweit verkauft, etwa im arabischen Raum. Das
       ist der Unterschied zu China, das sein Modell nur im eigenen Land aufbaut.
       
       Ein weiterer Schwerpunkt im diesjährigen Report ist der Rückbau. Laut WNISR
       sind aktuell 204 Reaktoren weltweit stillgelegt. Die durchschnittliche
       Dauer des Rückbaus liege bei 21 Jahren, schwanke aber stark – zwischen 6
       Jahren für einen kleinen Reaktor (Elk River in den USA) und 45 Jahren
       (Humboldt Bay, ebenfalls USA). Allerdings hätten erst 3 der 23 Länder, die
       bereits Reaktoren stillgelegt haben, für mindestens einen ihrer Reaktoren
       den technischen Stilllegungsprozess schon abgeschlossen: die Vereinigten
       Staaten (17 Einheiten), Deutschland (4) und Japan (1).
       
       6 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Weltweit-weniger-Strom-aus-Kernkraft/!5804190
   DIR [2] /Energiewirtschaft-in-Europa/!5871738
   DIR [3] https://www.worldnuclearreport.org/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernward Janzing
       
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