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       # taz.de -- Umgang mit sexueller Gewalt in Serbien: Lautstark gegen die Boulevardpresse
       
       > Die Zeitung „Informer“ will ein Interview mit einem Vergewaltiger nicht
       > aus dem Netz entfernen. Dass führt zu massiven Protesten in Belgrad.
       
   IMG Bild: Seit Anfang des Jahres wurden in Serbien 25 Frauen ermordet. Der Protest will auch darauf ein Licht werfen
       
       Belgrad taz | Unüberhörbar sind am Freitagabend über tausend Frauen und
       Männer mit Trillerpfeifen und rhythmischem Trommelwirbel vor dem
       Redaktionsgebäude der Zeitung Informer in Belgrads Innenstadt
       aufmarschiert. Immer wieder singen sie: „Nicht unsere Tränen, nicht unser
       Blut“ und „Nein zu den Medien, Schläger in die Gefängnisse“.
       
       Auch wenn der Protest diesmal etwas kleiner ausfällt: Bereits zum dritten
       Mal versammeln sich wütende, vor allem junge Frauen zur feministischen
       Kundgebung. Ausgelöst hatte die Protestwelle ein Interview mit einem
       verurteilten Serienvergewaltiger, der erst kurz zuvor nach 15 Jahren Haft
       auf freien Fuß gekommen ist. Das Boulevardblatt Informer veröffentlichte
       Ende September in seiner Onlineausgabe ein fast einstündiges Interview mit
       dem Mann, in dem er seine Gewaltphantasien ausbreiten durfte. Detailliert
       legte er dar, wie er sich bei seinen Taten gefühlt hatte und drohte sogar
       weitere Vergewaltigungen an. Auch die Print-Ausgabe des Informer druckte
       das Interview, mit seinem Gesicht auf dem Titelblatt.
       
       „Wir fordern, dass das Interview endlich gelöscht wird und dass Medien in
       Serbien angemessen über Gewalt gegen Frauen berichten“, sagt eine
       Teilnehmerin der Kundgebung, die mit ihren Freundinnen von Anfang an dabei
       ist. Noch immer lässt sich das Interview auf dem Youtube-Kanal der Zeitung
       finden.
       
       Auch der Verband serbischer Journalisten und der Presserat hatten die
       Veröffentlichung kritisiert. Laut der Koalition für Medienfreiheit verstößt
       das Interview gegen den Journalistenkodex und das Informationsgesetz. Einem
       verurteilten Vergewaltiger einen solchen medialen Raum zur Verfügung zu
       stellen sei nicht gerechtfertigt, hieß es in einer Stellungnahme gegenüber
       dem Portal srbin.info. Die Veröffentlichung retraumatisiere die Opfer des
       Mannes, aber auch alle Frauen, die in Serbien sexuelle Gewalt erfahren
       haben.
       
       Informer-Chefredakteur Dragan Vučićević verteidigte das Interview mit dem
       „öffentlichen Interesse“. „Es ist unsere Aufgabe, zu veröffentlichen, was
       selbst der größte Dreckskerl zu sagen hat“, sagte er gegenüber srbin.info.
       
       ## Regierung finanziert Medien
       
       Zu den Protesten aufgerufen hatte das feministische Kollektiv Ženska
       solidarnost (Frauensolidarität). Ihm geht es nicht nur um das Interview,
       sondern auch um die „Würde und das Recht von Frauen auf ein Leben ohne
       Gewalt“. Seit Anfang des Jahres wurden in dem kleinen Balkanland 25 Frauen
       ermordet. Laut der Organisation Medica Mondiale haben in Serbien 62 Prozent
       der Frauen sexuelle Gewalt erfahren. Verlässliche Zahlen zu
       Vergewaltigungen gibt es nicht, da nur wenige Frauen eine solche Tat
       melden.
       
       Die Proteste richten sich auch gegen die serbische Regierung. „Es kann
       nicht sein, dass unsere Regierung dieses Boulevardblatt mit einem Haufen
       Geld unterstützt“, sagt eine junge Frau mit Trillerpfeife am Rande der
       Kundgebung. Die [1][Regierung des Präsidenten Aleksandar Vučić] finanziert
       Medien zum Teil direkt oder indirekt – darunter auch Informer. Oftmals
       setzt sie regimefreundliche Unternehmer*innen an die Spitze von Medien
       und Verlagshäusern. Das ergaben Recherchen von Reporter ohne Grenzen und
       dem investigativen Netzwerk BIRN (Balkan Investigative Reporting Network)
       schon 2017. Als größter Geldgeber und Werbekunde übe der Staat dann
       erheblichen Einfluss auf die Berichterstattung aus.
       
       Seitdem hat sich die Situation noch verschlimmert, auf der [2][Rangliste
       der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen] nimmt das Land mittlerweile
       Platz 79 von 180 ein – Tendenz sinkend. Vor den Wahlen im April 2022 konnte
       Vučić in den Fernsehshows und auf den Titelblättern der größten Zeitungen
       unbehindert seine One-Man-Show abziehen – während die Opposition entweder
       gar nicht vor kam oder vom Präsidenten diskreditiert wurde.
       
       Auch der Informer folgt der Vučić-Linie: So titelte das Blatt zu Beginn des
       Ukrainekriegs mit der Zeile „Die Ukraine hat Russland angegriffen!“ Die
       serbische Regierung ist eng mit Wladimir Putins Russland verbündet und
       unterstützt die EU-Sanktionen gegen Moskau trotz EU-Kandidatenstatus nicht.
       
       Im Trommelrhythmus ziehen die Frauen und Männer am Freitagabend weiter die
       Belgrader Einkaufsstraße entlang. „Wir werden nicht schweigen!“, skandieren
       sie. Sie wollen weiter auf die Straße gehen, bis ihre Stimmen gehört
       werden.
       
       8 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Wahlen-in-Serbien/!5845910
   DIR [2] https://www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/rangliste-2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jana Lapper
       
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