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       # taz.de -- Politikwissenschaftlerin über Iran: „Feminismus verbindet“
       
       > Werden die jüngsten Proteste Iran nachhaltig prägen? Ja, sagt Expertin
       > Dastan Jasim. Ein Beispiel in der Region seien die kurdischen Gebiete in
       > Syrien.
       
   IMG Bild: Sie zeigen Solidarität mit den Frauen im Iran: Protestierende in der autonomen Region Kurdistan, Nordirak
       
       taz: Frau Jasim, seit dem Tod von Mahsa „Zhina“ Amini Mitte September
       protestieren die Menschen in Iran. Ist das der Beginn einer Revolution? 
       
       Dastan Jasim: Bis auf das Regime sind sich die meisten einig: Das war ein
       politischer Mord. Der Slogan „Jin, Jiyan, Azadi“ (Frauen, Leben, Freiheit)
       – ein Aufruf, der aus den kurdisch-feministischen Bewegungen bereits
       bekannt ist – ertönt nun im ganzen Land, so laut wie noch nie. Die Proteste
       begannen zwar mit dem Aufruf zum Generalstreik in allen kurdisch bewohnten
       Gebieten in Iran, aber nun stehen die Menschen in 40 Städten gegen das
       Regime auf. Man kann das als den Anfang einer Revolution betrachten. Die
       Menschen auf den Straßen machen deutlich: Sie wollen weder einen Ajatollah
       – einen religiösen Anführer –, noch einen Schah oder eine Diktatur, sondern
       einen Systemwechsel. Aber: Die Unterdrückung durch das Regime nimmt
       gleichzeitig zu. Die Frage ist, wer das längere Durchhaltevermögen hat.
       
       Was könnte das Durchhaltevermögen der Protestierenden brechen? 
       
       Wir haben bei dem Übergang vom Regime des Schahs zu dem des Ajatollahs
       gesehen, dass Kapitalisten, Staats- und Geheimdienstmänner die Seiten
       gewechselt hatten. Sie haben sich mit dem neuen System gut gestellt, um
       ihren Status und ihr Vermögen zu halten. [1][Heute haben die
       Demonstrant:innen aber nichts zu verlieren], mit einem
       Kooperationsangebot können sie nicht unter Kontrolle gebracht werden. Die
       Wut ist groß, und das Regime zu schwach für eine totale Kontrolle des
       Landes.
       
       Haben sich die Proteste seit ihrem Beginn verändert? 
       
       Die Proteste waren von Anfang an jung und multi-ethnisch und werden immer
       vielfältiger. Demonstrationen finden immer mehr an Universitäten und
       Schulen statt, sogar Minderjährige gehen auf die Barrikaden. Videos in den
       sozialen Netzwerken zeigen, wie etwa Schüler:innen ihre vom Regime
       installierten Direktoren anschreien oder wie sie Bilder des Führers der
       Islamischen Revolution, Ruhollah Khomeini, zerstören.
       
       Wie unterscheiden sich die älteren von den jüngeren Iraner:innen? 
       
       Die Jungen haben weder den Schah, noch den Iran-Irak Krieg, noch die
       Islamische Revolution erlebt. Diese [2][jungen, heute laut werdenden
       Menschen] haben das Regime nicht legitimiert, so wie ältere Generationen
       das vielleicht getan haben. Und: Junge Menschen sind die Mehrheit im Land.
       
       Frauen sind eine tragende Kraft dieser Bewegung. Was bedeutet das für den
       Feminismus im Iran? 
       
       Der eingangs erwähnte Slogan hat in der ganzen Region eine große Bedeutung.
       Kurdische Kämpferinnen haben ihr Leben im Kampf gegen die Terrormiliz
       „Islamischer Staat“ in Syrien gegeben. Der Spruch begleitet auch den Kampf
       der Frauen in der Türkei gegen Unterdrückung und Gewalt. Feminismus
       verbindet Frauen über Landesgrenzen hinweg. In Iran wird dieser Feminismus
       auch von Männern getragen, weil auch sie dort Unterdrückung erleben: Viele
       sind wirtschaftlich marginalisiert, und auch sie müssen sich an religiöse
       Regeln halten, dürfen keine kurzen Hosen oder Ärmel tragen. Deswegen ist
       diese feministische Bewegung vielschichtig und kann viele Menschen in Iran
       ansprechen.
       
       Könnten Männer die Frauenbewegung instrumentalisieren, und einer möglichen
       Revolution ein weiteres patriarchalisches System folgen? 
       
       In den linken Parteien des Iran gibt es viele Frauen. Doch sie sind weit
       entfernt von den wichtigen Gremien und in Führungspositionen saßen und
       sitzen Männer. Skepsis ist daher berechtigt. Aber die feministische
       Bewegung in der Region hat sich gewandelt, zum Beispiel in Rojava, den
       kurdischen Siedlungsgebieten in Syrien. Dort nehmen Frauen am
       gesellschaftspolitischen Leben teil, haben sogar eigene Polizei- und
       Militäreinheiten. Feminismus hat dort mehr als einen symbolischen Anspruch.
       Das lässt Frauen mehr einfordern, auch in Arbeitsbeziehungen und in
       Alltagsfragen. Dieses Beispiel aus Rojava haben heute viele in Iran vor
       Augen.
       
       Was bedeutet die Revolution für die gesamte Region? 
       
       Iran ist geschwächt, befindet sich schon lange unter Sanktionen und kommt
       weltpolitisch nicht weiter. Das Land hat seine Marionetten im Irak, im
       Libanon, in Syrien und in Jemen installiert, und diese haben bewaffnete
       Gruppen. In den Ländern, in denen der Iran Einfluss nimmt, ist seine Macht
       nicht garantiert. Etwa im Irak: Die von Iran unterstützten politischen
       Kräfte kommen dort nicht voran. Auch in Syrien und im Jemen ist die Lage
       chaotisch. Diese politisch-militärischen Experimente sind für den Iran
       immer schwieriger aufrecht zu erhalten. Fällt Iran als Strippenzieher weg,
       besteht die Gefahr, dass diese Milizen, die ohnehin brutal vorgehen,
       freidrehen. Das ist auch eine Strategie des Iran: Teheran hat es geschafft,
       davor international Angst zu verbreiten – fiele das Regime, brächen Chaos
       und Terror in der ganzen Region aus. Mit diesem Narrativ manipuliert das
       Regime. Die Demonstrationen können deshalb über Iran hinaus auch im Ausland
       viel erschüttern.
       
       Auch in Deutschland wird gegen das Regime protestiert. Was erwarten Sie von
       der EU und der Bundesregierung? 
       
       Ich [3][sehe viele junge Frauen], vor allem iranischer und kurdischer
       Abstammung, bei den Protesten – ein demokratisches Zeichen Ich sehe aber
       auch einen Generationskonflikt: Ältere Mitglieder der iranischen Diaspora
       unterstützen die Proteste nicht in ihrem gegenwärtigen Charakter, mischen
       etwa Monarchismus hinein. Das iranische Regime ist zudem wirtschaftlich
       gut vernetzt; Deutschland ist der größte EU-Handelspartner des Iran. Der
       Druck auf das Regime sollte verstärkt, und gezieltere Sanktionen gegen die
       Mittelsmänner und -frauen des Regimes erhoben werden.
       
       12 Oct 2022
       
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