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       # taz.de -- Verbot von Büchern in den USA: Politische Fernleihe
       
       > Konservative und Rechte in den USA wollen bestimmte Bücher verbannen. Die
       > Brooklyn Library will gegen diese Form der „weichen Zensur“ ankämpfen.
       
   IMG Bild: Summer Boismier (Mitte) wollte ihren Schülern Bücher zugänglich machen und bekam dafür Morddrohungen
       
       New York taz | Ob er eine Bücherverbrennung will, fragt ein
       Oppositionspolitiker den republikanischen Abgeordneten Jerry Sexton im
       Parlament von Tennessee. „Ich habe keine Ahnung, wohin die verbotenen
       Bücher kommen“, antwortet der schulterzuckend, „von mir aus können sie
       verbrannt werden.“ Sexton ist einer der Republikaner in Tennessee, die
       mehrere Gesetze durchgesetzt haben, die Bücher aus Bibliotheken verbannen.
       
       Damit ist Tennessee nicht allein, quer durch die USA sind republikanische
       Politiker auf einem Kreuzzug für Bücherverbote. Weiße Baptistenprediger
       unterstützen sie in ihren Kirchen. Konservative Eltern tragen den
       Kulturkrieg in die Sitzungen der Schulausschüsse und in die öffentlichen
       Bücherhallen. Sie wollen, dass Bücher aus den Regalen verschwinden, von
       denen sie meinen, sie seien „obszön“, „subversiv“, „satanisch“ oder alles
       zusammen. Am häufigsten trifft es Romane und Graphic Novels über das
       Erwachsenwerden. Sie handeln von ersten sexuellen Begegnungen, von
       Geschlechteridentität und von Rassismus.
       
       Die Methoden variieren. Manche Politiker versuchen, mit Bücherverboten in
       die Schlagzeilen zu kommen. In Texas schaffte das der republikanische
       Abgeordnete Matt Krause, als er in seinem Vorwahlkampf eine Liste mit 850
       Büchern veröffentlichte, deren Lektüre er verhindern will.
       
       Oft richten sich Einschüchterungen [1][direkt gegen Bibliothekare]. In
       Denham Springs, Louisiana, bezichtigt eine Facebook-Seite eine
       Schulbibliothekarin als „Kriminelle und Pädophile“. In Jamestown Township,
       Michigan, kürzen die Wähler den Bibliothekshaushalt, weil ihnen Bücher im
       Bestand missfallen. In Virginia erhalten Bibliothekare Drohmails, nachdem
       sie bei der Arbeit auf Video aufgenommen werden. In Idaho kündigt eine
       Bibliothekschefin, nachdem Demonstranten ihr „biblische Strafen“ angedroht
       haben und Leute mit Schusswaffen bei Sitzungen in ihrer Bibliothek
       auftauchen.
       
       ## Nur die Spitze des Eisberges
       
       Von Januar bis Anfang September dieses Jahres hat der Verband
       amerikanischer Bibliotheken 681 Versuche erfasst, Bücher aus Bibliotheken
       zu verbannen. Insgesamt ging es dabei um 1651 Buchtitel. So viele
       Anfechtungen von Büchern in so kurzer Zeit hat der Bibliotheksverband nie
       zuvor dokumentiert. Dabei ist nur die Spitze des Eisbergs bekannt. Die Zahl
       der Bücher, die ohne jede Diskussion aus den Regalen entfernt werden, ist
       nach Ansicht von Experten deutlich höher. Sie sprechen von „weicher
       Zensur“.
       
       „Die Verbote sind der Anfang“, sagt Nick Higgins, Chefbibliothekar der
       Brooklyn Public Library in New York. „Das Ende sind Bücherverbrennungen.“
       Anfang des Jahres hatte Higgins die Idee, die verbotenen Bücher aus der
       Ferne in Umlauf zu bringen als E-Books. Im April führte die Brooklyn
       Library eine elektronische Karte für Jugendliche zwischen 13 und 21 Jahren
       ein. Ohne Gebühren können sie damit von jedem beliebigen Ort der USA aus
       E-Bücher aus dem Bestand der Brooklyn Library bestellen.
       
       Tausende Jugendliche besitzen inzwischen eine Karte für „Books Unbanned“.
       Sie haben bislang 35.000 E-Bücher ausgeliehen. Ihre E-Mails erklären, warum
       sie das tun. „Ich bin 13 und ich möchte Bücher lesen, die meine Schule
       nicht billigt“, schreibt einer. Ein 14-Jähriger berichtet: „Ich habe in der
       Lokalbibliothek nach Büchern über LGBT gefragt und die Antwort bekommen,
       dass solche Ideen nicht in meinen Kopf gehören.“ Eine Mutter beklagt, dass
       in dem Biologiebuch ihres Sohnes ein dreimonatiger Fötus dargestellt ist,
       als handele es sich um ein voll entwickeltes Baby.
       
       Die Brooklyn Library ist eine der größten der USA. An ihrem Hauptsitz ist
       der Kontrast zu den Bücherverbotsstaaten schon von der Straße aus
       unübersehbar. In der Mitte des sternförmigen Grand Army Plaza Platzes,
       direkt vor der Bibliothek, ehrt ein Triumphbogen die Soldaten der Union,
       die im Bürgerkrieg gegen die Konföderierten gekämpft und gesiegt haben. In
       vielen der Verbotsstaaten stehen weiterhin Denkmäler für jene, die im
       Bürgerkrieg für das Festhalten an der Sklaverei kämpften. Über dem Eingang
       in die Brooklyn Library prangen seit 2020 drei große Buchstaben: [2][„BLM“
       für Black Lives Matter]. Für Republikaner in den Verbotsstaaten sind diese
       drei Buchstaben ein rotes Tuch.
       
       Die Unterschiede setzen sich im Inneren fort. Zitate aus Büchern, die
       anderswo verboten sind, schmücken die Wände. Auf einer Tafel ist zu lesen:
       „Bücher verbinden. Zensur spaltet“. Der Lesesaal für Jugendliche lädt
       ausdrücklich „alle Religionen und Geschlechter“ ein. Bloß „Hassreden“ sind
       dort verboten. Der Kiosk der Bibliothek wird von Flüchtlingen
       bewirtschaftet. Und Obdachlose bekommen in der Bibliothek Rechtsberatungen.
       
       „Eine Bibliothek sollte einer der zugänglichsten Orte überhaupt sein“, sagt
       Chefbibliothekar Higgins. Die Initiative Books Unbanned bezeichnet er als
       „Stellungnahme gegen Zensur“ und als „Arbeit der Liebe“. Er hofft, dass
       sie „Raum für einen gewaltfreien und positiven Austausch“ schafft und „eine
       positivere öffentliche Diskussion möglich macht“.
       
       ## „Unangemessene“ Bücher sollen entfernt werden
       
       Mehr als 2.300 Kilometer weiter südwestlich surft im August eine Mutter auf
       die Webseite von Books Unbanned. Was sie dort sieht, empört sie so, dass
       sie noch am selben Tag eine Beschwerde wegen „Pornografie“ gegen die
       Englischlehrerin ihrer Tochter einreicht.
       
       Summer Boismier, die 34-jährige Englischlehrerin, hatte wie alle Lehrer des
       Gymnasiums in Norman in Oklahoma kurz vor Beginn des Schuljahrs ein
       Schreiben ihres Schulbezirks erhalten. Es forderte die Lehrer auf, Bücher,
       die „unangemessen“ sind, zu entfernen. Die Behörde begründet die Maßnahme
       mit Gesetz 1775. Seit vergangenem Jahr verbietet es Lehrern in Oklahoma, im
       Unterricht Themen zu behandeln, die dazu führen können, dass Schüler sich
       aufgrund ihrer race oder ihres Geschlechts „unwohl fühlen“. Zwei Schulen in
       Oklahoma sind bereits wegen Verstößen gegen das Gesetz bestraft worden. In
       einem Fall führte die Frage „Hat jemand im Raum schon einmal
       Diskriminierung erlebt“ zu dem Entzug von finanziellen Mitteln und
       Lizenzen.
       
       Bei der Lektüre des Briefes kommt der Englischlehrerin Boismier ein Foto in
       den Sinn, das sie von den leeren weißen Bücherregalen in dem Mahnmal unter
       dem Bebelplatz in Berlin gesehen hat. Es erinnert an den Tag im Mai 1933,
       als dort NS-Studenten und -Professoren 20.000 Bücher verbrannten.
       
       Kurz vor Schuljahresbeginn stößt die Lehrerin auch auf den QR-Code zu Books
       Unbanned. Am ersten Schultag sortiert sie ihre Bücher nicht aus, sondern
       verhängt die Regale in ihrem Klassenraum mit Packpapier. „Bücher, von denen
       der Staat nicht will, dass ihr sie lest“, schreibt sie darauf und platziert
       an mehreren Stellen im Raum den QR-Code zu Books Unbanned. „Der QR-Code
       kann euch Zugang zu Büchern verschaffen, die ich euch nicht mehr geben
       kann“, sagt sie ihren Schülern.
       
       Für Boismier sind Bibliotheken Orte, an denen Menschen ihre Geschichten
       erzählen und sich in Büchern wiederfinden können. „Ich glaube nicht an
       Zensur“, sagt sie der taz.
       
       Dieses wäre ihr neuntes Dienstjahr an dem Gymnasium in Norman geworden.
       Stattdessen soll sie zu einem Gespräch mit der Schulverwaltung erscheinen,
       bevor sie in ihr Klassenzimmer zurückkehren darf. Boismier wartet den
       Termin nicht ab, sondern kündigt: „Ich wusste, dass der Schuldistrikt mich
       nicht unterstützt.“ In den sozialen Medien wird sie wegen des QR-Codes als
       „Pädophile“ beschimpft. Der Erziehungsminister von Oklahoma, Ryan Walters,
       droht ihr mit dem Entzug ihrer Lehrerlaubnis. Die empörte Mutter verlangt
       „strafrechtliche Ermittlungen“. Als Todesdrohungen kommen, meldet Boismier
       sie der Polizei.
       
       Am Ende ihres ersten und einzigen Schultags in diesem Jahr danken ein paar
       Schüler der Lehrerin für den QR-Code. Später erklären Kollegen in privaten
       Gesprächen ihre Solidarität. Boismier versteht, dass sie sich „zwischen
       Lohn und Prinzipien“ entscheiden müssen.
       
       Boismier ist gerne Lehrerin. Aber in ihrem Heimatstaat Oklahoma sieht sie
       keine Zukunft mehr. Demnächst wird sie nach New York ziehen, wo ihr die
       Brooklyn Library eine Stelle angeboten hat. Das Angebot freut sie. Aber
       eigentlich wollte sie nicht fliehen. Es klingt bitter, wenn sie sagt: „Ich
       sollte meinen Staat nicht verlassen müssen, weil ich meine Arbeit getan
       habe.“
       
       24 Oct 2022
       
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