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       # taz.de -- Sebastian Kurz in Österreich: Labor für Korruption
       
       > Dokumente und Zeugenaussagen offenbaren den Filz österreichischer Politik
       > um Sebastian Kurz. Der Selbstbedienungsladen verrät die Interessen der
       > Bevölkerung.
       
   IMG Bild: Im Oktober 2021 gab Kurz seinen Rücktritt als Kanzler Österreichs bekannt
       
       Österreich befindet sich in der Nach-Kurz-Zeit. Zur Erinnerung: Sebastian
       Kurz – das war dieser konservative Kanzler, der auch in Deutschland hofiert
       wurde. Jener Politiker, der ganz jung einen Senkrechtstart hingelegt hat –
       vom Jugendfunktionär zum Kanzler. Und der dann ebenso fulminant wie abrupt
       zurücktreten musste.
       
       Seit der Ära Kurz ist österreichische Innenpolitik nicht nur ein Labor in
       Sachen Korruption und Machtmissbrauch. Sie ist auch von höchstem
       Unterhaltungswert. Zumindest von außen betrachtet. Aus der Innenperspektive
       mischt sich das Amüsement jedoch bei jeder neuen Etappe des sich immer
       schneller drehenden Zyklus von Enthüllungen mit zunehmender Frustration.
       
       Ausgangspunkt war [1][das berühmte „Ibiza-Video“], das 2019 die damalige
       Koalition von ÖVP und FPÖ sprengte. Der damalige Chef der rechten FPÖ,
       Heinz-Christian Strache, ließ sich von einer angeblichen Oligarchen-Nichte
       dazu hinreißen, sein Verständnis von Politik in aller Offenherzigkeit
       bloßzulegen. Ohne zu wissen, dass er dabei gefilmt wurde.
       
       Das besagte Video ist ein eindrückliches Dokument. Es bestätigt alle
       Vorurteile gegenüber Politikern. Es zeigt einen wild gewordenen
       Westentaschen-Machiavellisten. Einen Rechten, der lauthals immer
       „Lügenpresse“ schreit und davon träumt, ebendiese Presse in seinen Dienst
       zu nehmen. Korruption als gerader Weg zur Macht.
       
       ## Was für ein Dokument!
       
       Im Zuge der Untersuchungen dieser Causa kam es zu einem Zufallsfund:
       Tausende Chatnachrichten von wesentlichen Protagonisten der Kurz-Regierung
       gelangten an die Öffentlichkeit. Damit wurde der Fokus in Fragen Korruption
       verlagert: von der ganz rechten FPÖ zur bürgerlichen ÖVP. Auch hier gilt:
       Was für ein Dokument!
       
       Unintendiert und ungeschützt bot es Einblick in die Kommunikation einer
       verschworenen Clique, die sich daranmachte, die Macht zu übernehmen –
       sowohl in der Partei als auch im Land. Spätere Chats galten dann den
       Machenschaften nach der Machtübernahme.
       
       Diese zeigen eine solche Machtclique in nuce, ohne Fassade: eine Mischung
       aus unflätig, trunken von der eigenen Machtfülle, fasziniert vom Drehen an
       den Schalthebeln, berauscht von den gemeinsamen Übertretungen, vom Gefühl,
       alles tun zu dürfen – und zugleich von einer Banalität der Kommunikation,
       die über Gymnasiasten-Chats nicht hinausgeht.
       
       Und dieser Tage dann die nächste Stufe: das Publikwerden der umfassenden
       Aussagen eines der zentralen Protagonisten vor der Staatsanwaltschaft, um
       den Status eines Kronzeugen zu erhalten. Nicht zufällig nannte der
       Ex-Vertraute Kurz’, Thomas Schmid, dies seine „Offenbarungen“.
       
       ## Ausschalten von Konkurrenten
       
       Die Aussagen zeigen: Korruption diente Kurz und seiner Gefolgschaft nicht
       nur zum Machterwerb – durch das Ausschalten von Konkurrenten aller Art. Sie
       diente ihnen nicht nur zur Darstellung der eigenen Vortrefflichkeit (etwa
       durch gekaufte Medienberichte oder getürkte Umfragen).
       
       Ihren Höhepunkt erlangte die Korruption dort, wo die Politik sich gänzlich
       in den Dienst [2][der hiesigen Oligarchen] stellte. So schildert Schmid
       ausführlich, wie Großindustrielle wie René Benko oder Siegfried Wolf der
       Politik ihr Begehren nach Steuererleichterungen mitteilen – und diese
       prompt liefert. Wozu hat man schließlich die Macht? Sie seien die „Hure der
       Reichen“ gewesen – so Thomas Schmid unnachahmlich treffend.
       
       Und da hört noch der letzte Rest an Amüsement auf. Da setzt ein
       grenzenloser Frust beim Publikum ein. Hier verkehren sich alle
       Verhältnisse. Die politischen Vertreter verkaufen das, was ihnen nicht
       gehört – ihr Mandat. Politik wird dabei nicht nur zum Selbstbedienungsladen
       der Reichen, die hier ihre Wünsche einfach nur deponieren müssen.
       
       Noch schlimmer ist, dass damit das Allgemeininteresse zur reinen Fassade
       wird. Das Interesse aller Bürger, das die Regierung doch vertreten sollte,
       dient nur noch als vermeintliche Legitimierung, um das Interesse der
       Reichsten zu bedienen – noch nicht einmal ein Klasseninteresse, sondern nur
       deren ureigenstes Privatinteresse.
       
       26 Oct 2022
       
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