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       # taz.de -- Doku- und Animationsfilme in Leipzig: Die Welt ist mit Wucht zurück
       
       > Das Filmfestival Dok Leipzig bot in diesem Jahr eine starke Auswahl. Dass
       > ukrainische Filme einen Schwerpunkt bildeten, ist dafür nur ein Beispiel.
       
   IMG Bild: „Anhell69“ zeigt eine Gesellschaft, die mit Geistern lebt
       
       Ein Mann mit Hut im Anzug steht in einem Büschel Farne im Wald. Das Bild
       ist ein Foto, die Farne und die Nadelbäume im Hintergrund sind sorgsam
       koloriert, der Mann selbst ist schwarz-weiß geblieben. Sönje Storms „Die
       toten Vögel sind oben“ nähert sich der Sammlung des Urgroßvaters der
       Regisseurin, dem ehemaligen Bauern und autodidaktischen Naturforscher und
       Naturfotografen Jürgen Friedrich Mahrt.
       
       Im Ersten Weltkrieg zum Fotografen geworden, verkauft er nach dem Ende des
       Kriegs Teile seines Landes für eine Kamera und beginnt, die Natur in der
       Umgebung zu fotografieren, später tote Tiere zu präparieren. Es entstehen
       Hunderte handkolorierte Fotos von Vögeln, Raupen, Blättern, aber auch
       Selbstporträts.
       
       Seine Naturbilder und Tierpräparate sind heute Zeugnis verlorener,
       ausgestorbener Arten. Ein Prozess, den Mahrts Bilder schon vorwegnehmen,
       indem sie teilweise tote, präparierte Tiere in der Natur inszenieren und so
       die Grenzen des Lebendigen verwischen.
       
       Storms Film ist einer der eindrucksvollsten einer insgesamt starken Ausgabe
       des [1][Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und
       Animationsfilm,] kurz Dok Leipzig, die am Montag zu Ende gegangen ist. „Die
       toten Vögel sind oben“ wurde mit der Goldenen Taube des deutschen
       Wettbewerbs ausgezeichnet.
       
       ## Goldene Taube geht nach Kolumbien
       
       Der Hauptpreis des Festivals, die Goldene Taube im internationalen
       Wettbewerb, ging an Theo Montoyas „Anhell69“, der in eindrucksvollen
       Bildern das Leben einer Generation junger queerer Menschen im Kolumbien
       nach dem Friedensabkommen zwischen Staat und Farc 2016 zeigt.
       
       Kurz nachdem der Regisseur einen Hauptdarsteller gefunden hat, stirbt
       dieser an einer Überdosis Heroin. Nächtliche Blicke auf Medellín,
       Partyszenen und Stadtszenen, in denen Plakate nach Verschwundenen suchen,
       verdichten sich in „Anhell69“ zum Bild einer Gesellschaft, die mit Geistern
       lebt.
       
       Die Welt ist mit Wucht zurück im Dokumentarfilm. Bandenkämpfe in Mexiko,
       Abholzung des Regenwalds, eine Transgender-Ornithologin – die Filme des
       Festivals zeigen die Krisen der Welt und die komplexen Wege, in dieser Welt
       zu leben. Ein Schwerpunkt bot Raum für Filme des ukrainischen Festivals
       DocuDays UA, eine Retrospektive widmete sich den Regisseurinnen des
       Defa-Dokumentarfilms.
       
       Knallgrün getönte Bilder eines Tabakfelds auf Sumatra. Am Horizont zeichnet
       sich schemenhaft die Waldgrenze ab. Die Kameraeinstellung wechselt, zwei
       Männer im weißen Tropenanzug gehen auf einem Weg zwischen den
       Tabakpflanzen. Ein Arbeiter kommt ihnen entgegen, nimmt den Hut ab und
       tritt zur Seite, lässt die beiden Männer vorbei. Die indonesischen
       Filmemacher_innen Mahardika Yudha, Robin Hartanto Honggare und Perdana
       Roswaldy machen in ihrem Dokumentarfilm „Tropic Fever“ die Strukturen des
       niederländischen Kolonialismus in Indonesien anhand der Tabak- und
       Gummiplantagen sichtbar.
       
       ## Kolonialismus in Indonesien
       
       Nicht immer sind die Machtverhältnisse so subtil wie in der Szene zwischen
       Tabakpflanzen. Der Film kombiniert ein semi-autobiografisches Buch eines
       Plantagenmanagers mit Bildern aus kolonialen Filmen. Yudha, Haranto
       Honggare und Roswaldy nutzen die erst unlängst digitalisierten
       Kolonialfilmbestände des niederländischen EYE Filmmuseums, um die
       Perspektive auf den niederländischen Kolonialismus umzudrehen und ihn aus
       indonesischer Perspektive zu zeigen.
       
       Archivbilder waren ein wiederkehrendes Element in den Filmen des Festivals.
       Beim Umgang mit diesem Material zeigte sich immer wieder ein Drang zu
       naturalistischer Konvention. „Tropic Fever“ unterlegt Naturfotos mit
       generischem Vogelgezwitscher.
       
       Der ukrainische Regisseur Igor Ivanko lässt in „Fragile Memory“ Autos auf
       Fotos hupen, Straßenszenen werden mit Stimmengewirr und Kindergeschrei
       unterlegt. Im Versuch, historische Bilder zu beleben, werden diese durch
       den Umgang mit ihnen eingeebnet, konkrete Kontexte treten zurück hinter die
       Dichotomie einer Welt dies- und jenseits des Archivs.
       
       Die Animationsfilme strotzten in diesem Jahr vor Bildern, die die
       gegenwärtige Welt auf den Punkt bringen. Die lettische Regisseurin Signe
       Baumane findet in ihrem animierten Musical „My Love Affair with Marriage“
       Bilder für eine Normierung von Gendervorstellungen und Lebenswegen. Wie
       Harpyien stürzen sich die Normen der Gesellschaft auf ein junges Mädchen:
       Liebe, Ehe, Kinderglück. Ihr Körper und seine Biochemie tun das ihrige. Der
       Weg des Mädchens zur Frau ist eine Reihe von enttäuschten Hoffnungen und
       Erwartungen bis sie lernt, die Harpyien zu zähmen.
       
       ## Miniatur über ein Krokodil und die Pandemie
       
       Im animierten Kurzfilm „Lost Brain“ der Schweizer Regisseurin Isabelle
       Favez erschüttert ein scheinbar harmloser Schnupfen die Welt von Krokodil
       Louise. Mit einem Mal funktioniert der Alltag des urbanen Krokodils nicht
       mehr, Louise kann keinen Kaffee mehr kochen, findet den Schlüssel ihrer
       Wohnung nicht mehr. Auch die Farben sind aus dem vormals bunten Film
       verschwunden.
       
       Erst als ihr die Tränen auf die Tasten ihres Klaviers kullern, findet die
       Krokodilsfrau einen Weg zurück in die Welt. Favez’ Film im Kinderprogramm
       kommt harmlos daher. Doch in dem nur scheinbar harmlosen Schnupfen lassen
       sich Anklänge der Pandemie entdecken. Favez ist eine leichte, höchst
       aktuelle Miniatur gelungen.
       
       Der 65. Jahrgang von Dok Leipzig überwältigte mit großartigen Filmen. Es
       scheint, als hätten [2][Festivalleiter Christoph Terhechte] und das
       Auswahlkomitee einen guten Weg für das Festival gefunden. Ausgewählte Filme
       sind online zum Streamen verfügbar.
       
       24 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Tietke
       
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