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       # taz.de -- Biographischer Comic über Stockhausen: Der egozentrische Messias
       
       > „Stockhausen. Der Mann, der vom Sirius kam“ erzählt vom Leben des
       > Avantgarde-Komponisten. Annäherungen an einen Außerirdischen.
       
   IMG Bild: David von Bassewitz' Zeichnungen haben eine skizzenhafte Lockerheit
       
       Comic-Verlage lieben Biografien. Meistens geht es in ihnen um berühmte
       Männer, seltener um berühmte Frauen, und oft lesen sie sich eher zäh: Hat
       man doch wenig mehr zu erwarten, als dass brav Lebensstationen ins Bild
       gesetzt werden. Noch beliebter sind bei Verlagen autobiografische Comics.
       Sie gelten ja als so herrlich authentisch – dennoch sehnt man sich bei der
       zwanzigsten sensiblen Coming-of-Age-Story mitunter nach einem knalligen
       Superhelden-Abenteuer.
       
       Mit „Der Mann, der vom Sirius kam“ hat sich der Schriftsteller und
       Filmemacher Thomas von Steinaecker – in den Kinos läuft gerade sein
       Werner-Herzog-Porträt „Radical Dreamer“ – also sehr viel vorgenommen: die
       Verbindung zweier nicht unproblematischer Comic-Formen. Denn einerseits
       schildert er das Leben Karlheinz Stockhausens von dessen Kindheit bis in
       die 1970er, andererseits erzählt Steinacker parallel von der extremen
       Faszination, die das Werk des 1928 geborenen Avantgarde-Komponisten auf
       ihn, seit er zwölf Jahre alt war, ausgeübt hat. Das Ergebnis ist ein Band
       von nahezu 400 Seiten, monumental in seinem Anspruch, aber durchweg
       gelungen – ein besserer deutschsprachiger Comic wird 2022 nicht erscheinen.
       
       „Der Mann, der vom Sirius kam“ setzt im Sommer 1989 ein. Die Familie
       Steinaecker lebt in Viechtach, tief in der bayerischen Provinz. Abwechslung
       in deren gähnender Langeweile bieten Thomas nur Bücher, Filme und Musik.
       Mit seinem Bruder nimmt er Pop-Songs im Rundfunk auf; die Eltern versorgen
       ihn mit Kunstmusik-LPs. Als ihm der Vater den „Gesang der Jünglinge im
       Feuerofen“ in die Hand drückt, ist dies ein Erweckungserlebnis: Zum
       Unverständnis seiner gleichaltrigen Umwelt kann Thomas von diesen Klängen
       nicht genug kriegen. Als er beginnt, eine Biografie Stockhausens zu lesen,
       blendet der Comic in dessen Leben über.
       
       Stockhausen wächst während des „Dritten Reichs“ auf. Sein Vater ist Lehrer
       und Nazi, ein Musterbild des autoritären Charakters. Die psychisch kranke
       Mutter wird 1941 in der „Heil- und Pflegeanstalt“ Hadamar ermordet. Auf
       traumatische Erfahrungen als minderjähriger Sanitäter in der Endphase des
       Zweiten Weltkrieges folgt ein Musikstudium in Köln und Paris. Den großen
       Durchbruch bringt 1956 die zugleich bejubelte und ausgebuhte Uraufführung
       der „Jünglinge“; daran schließt sich eine internationale Karriere an, die
       Stockhausen in viele Länder führt.
       
       ## Ungehemmter Egozentriker
       
       Die Schattenseiten Stockhausens und seines Kunstverständnisses verschweigt
       der Comic nicht. Der Komponist, der sich gerne als Außerirdischer
       imaginierte, war von einer ungehemmten Egozentrik, unter der seine privaten
       Beziehungen leiden mussten. Er sah sich als eine Art Messias, der mit
       seiner Musik sowohl „die göttliche Ordnung widerspiegeln“ als auch eine
       „bessere Gesellschaft hervorbringen“ wollte. In seinem zwanghaft radikaler
       Innovation verpflichteten Großkünstlertum, das ihn schließlich die
       9/11-Anschläge als geniales „Konzert“ preisen ließ – ein Skandal, der hier
       noch nicht vorkommt –, ist Stockhausen heute eine historische Figur.
       
       Diskret, aber ohne Scheu macht Steinaecker im Wechsel von biografischen
       und autobiografischen Passagen zudem deutlich, woher seine
       Stockhausen-Verehrung als junger Mensch rührte. Sie war nicht nur, wie in
       den von ihm geliebten Science-Fiction-Filmen, eine Evasion in eine andere,
       aufregende Welt, sondern auch motiviert von der wohl nicht allzu großen
       Aufmerksamkeit, die ihm sein Vater entgegenbrachte. Dieser erscheint im
       Comic als in seinem bürgerlichen Beruf übermäßig eingespannt und wenig
       glücklich; zu Hause verschanzt er sich regelmäßig hinter der Süddeutschen
       Zeitung. Dass unter dieser Voraussetzung Stockhausen für Steinaecker Züge
       eines Ersatzvaters hatte, wird nirgendwo ausgesprochen, ist jedoch evident.
       
       Ein Ereignis ist „Der Mann vom Sirius“ auch aufgrund der Zeichnungen, die
       David von Bassewitz am Computer gemalt hat. Im Vergleich zu „Vasmers
       Bruder“ (2014), seinem bislang einzigen anderen Comic, hat Bassewitz
       seinen Stil radikal verändert. Flirtete er in seinem Debüt mit dem
       Fotorealismus, sind seine Bilder nun von einer skizzen- und aquarellhaften
       Lockerheit. Auf eine Rahmung der Panels verzichtet er ebenso wie auf deren
       traditionelle Reihung. Ungeheuer stark sind die überwiegend in Grau und
       Braun gehaltenen Szenen aus Stockhausens Jugend, die NS-Mief und
       -Brutalität, ohne auf visuelle Klischees zurückzugreifen, bedrückend
       vergegenwärtigen.
       
       Nicht weniger als sieben Jahre haben Steinaecker und Bassewitz für die
       Arbeit an „Der Mann vom Sirius“ gebraucht. Mit dem zweiten, abschließenden
       Band hoffen sie schneller, in vier Jahren, fertig zu werden. Dass man sich
       so sehr auf eine Fortsetzung freut, kommt nicht oft vor.
       
       25 Oct 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christoph Haas
       
       ## TAGS
       
   DIR Autobiographischer Comic
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   DIR Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
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