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       # taz.de -- Palästinensisch-israelischer Konflikt: Der Elefant im Raum
       
       > Das Wort „Frieden“ ist aus dem israelischen Diskurs verschwunden,
       > schreibt unsere Korrespondentin. Ein Essay über die Sprachlosigkeit.
       
   IMG Bild: Spuren des palästinensisch-israelischen Konflikts: Eine Wohngegend in Nablus/ Westbank am 20.09.22
       
       Tel Aviv taz | Einen Essay über die Friedensbewegung in Israel sollte ich
       schreiben. Selten war meine Ratlosigkeit angesichts einer Artikelanfrage
       größer. Über Frieden spricht man nicht in Israel, ich auch nicht. Dabei
       zerreißt mir der [1][palästinensisch-israelische Konflikt] das Herz,
       seitdem ich vor rund zehn Jahren wegen einer Recherche für meine
       Doktorarbeit nach Jerusalem gekommen bin, in Ramallah Deutsch unterrichtet
       habe und mich in Tel Aviv in meinen jetzigen Partner verliebt habe. Und
       nicht zuletzt, seitdem ich tagtäglich darüber berichte. Wenn ich aber mit
       der Nase darauf gestoßen werden, sehe ich ihn als Außenstehende eben doch,
       den Elefanten im Raum, den die meisten Israelis heute selbst dann
       ignorieren, wenn er ihnen ins Ohr trompetet.
       
       Wo in den neunziger Jahren der ersehnte Frieden mit den
       Palästinenser*innen Zehntausende Menschen auf die Straße brachte und
       Friedenslieder in den Straßen ertönten, herrscht heute, rund 30 Jahre
       später, vor allem eins: Schweigen.
       
       Am 1. November wird in Israel gewählt. Zum fünften Mal innerhalb von
       zweieinhalb Jahren geht es darum, ob Benjamin Netanjahu alias „King Bibi“
       zurück an die Macht kommt. Mehr als 100 Palästinenser*innen sind in
       den letzten Monaten vom israelischen Militär im Westjordanland getötet
       worden. Vor zwei Wochen wurden innerhalb von wenigen Tagen zwei israelische
       Soldat*innen von Palästinensern getötet. Israelis wie
       Palästinenser*innen machen sich Sorgen, dass die dritte Intifada
       bevorsteht. Einige glauben, sie sei schon da.
       
       Doch von einem Versuch, sich mit den Palästinenser*innen zu einigen,
       keine Rede – nirgends. Das Wort „Frieden“ ist aus dem israelischen Diskurs
       verschwunden.
       
       ## Als Arafat und Rabin die Hände schüttelten
       
       Wie schreibt man über etwas, das fort ist? Ich könnte die Seite weiß
       lassen. Oder aber die Trauer und den Zynismus ergründen, die das Wort
       Frieden haben verschwinden lassen. Auch wenn ich dafür in Kauf nehmen muss,
       für naiv gehalten zu werden – weil: „Wo lebst du denn?“
       
       Fragt man Israelis nach Frieden, gehen sie – nach dem ersten Schock und
       einigen zynischen Kommentaren – ausnahmslos zurück in die 1990er Jahre. Die
       Hoffnung war groß, als Jassir Arafat und Jitzhak Rabin 1993 vor dem Weißen
       Haus die Hände schüttelten. Doch dann schoss auf der Friedenskundgebung am
       4. November 1995 der rechtsreligiöse Fanatiker Jigal Amir, Gegner des
       Friedensprozesses, auf Rabin. Er starb im Krankenhaus.
       
       Mit schwarzem Edding schrieb mein damals zwanzigjähriger Partner auf den
       weißen Boden auf dem Platz der Könige Israels, heute Rabin-Platz, ein Zitat
       aus dem Doors-Klassiker: „This is the end.“ Eine Antibesatzungsaktivistin,
       damals Teenagerin, sah ihre Eltern gemeinsam vor dem Fernseher weinen. Und
       einer der unermüdlichsten Friedensaktivisten, Buma Inbar, hatte gerade
       seinen Sohn als Soldat im Libanon verloren und wollte Rabin an diesem Abend
       einen Brief überreichen. Darin die dringende Bitte, dass er, sein Sohn, der
       letzte gewesen sein möge, der dem Konflikt zum Opfer gefallen sein möge.
       
       Rabin hatte noch auf der Kundgebung, etwas schüchtern und schief, die Hymne
       der Friedensbewegung mitgesungen, Shir LaShaom – das Lied auf den Frieden.
       Kurze Zeit später fand man in seiner Brusttasche ein blutgetränktes Blatt
       mit dem Liedtext. „Frieden im Nahen Osten braucht Anführer, die bereit sein
       müssen, ermordet zu werden“, sagte Yossi Beilin, einer der Architekten des
       Oslo-Friedensprozesses, einmal zu mir in einem Interview. Ich, die ich in
       friedlichen Zeiten in Deutschland aufgewachsen bin, verstehe diesen Satz
       intellektuell. Aber was er wirklich bedeutet, das kann ich nach wie vor nur
       erahnen. Bis heute hat sich das Land nicht von diesem Ereignis erholt.
       
       ## Das Friedenslied wurde nun leiser gesungen
       
       Bei den Neuwahlen im Mai 1996 wurde der [2][Likud-Anführer Benjamin
       Netanjahu], der jahrelang gegen den Friedensprozess und Rabin gehetzt
       hatte, Ministerpräsident. Sein Programm: Siedlungen bauen, den
       Friedensprozess austrocknen. Das Shir LaShalom, das Lied auf den Frieden,
       wurde von nun an leiser gesungen.
       
       Und dann, im Jahr 2000, ging auch die Hoffnung verloren. Der gemäßigte Ehud
       Barak kam von einer Verhandlungsrunde mit Arafat in Camp David zurück.
       Angeblich hatte Israel all die Zugeständnisse gemacht, die seine Führung
       hätte machen können. Doch die Verhandlungen waren gescheitert, und Barak
       prägte einen Satz, der den friedensbewegten Israelis jegliche Hoffnung
       nahm: „Wir haben keinen Partner.“
       
       Die zweite Intifada, die Selbstmordanschläge, in denen
       Palästinenser*innen Busse und Restaurants in die Luft jagten,
       traumatisierten die Gesellschaft. Die Traumatisierung ist an der Oberfläche
       oft nicht sichtbar, doch wenig dürfte die israelische Gesellschaft seit
       ihrer Gründung 1948 nachhaltiger verändert haben als dieses Ausmaß an
       Gewalt.
       
       „Die derzeitige Herausforderung ist, die Menschen dazu zu bringen, wieder
       daran zu glauben, dass Frieden möglich ist“, sagt Dov Khenin von der
       jüdisch-arabisch-kommunistischen Partei Partei Chadasch. Die meisten
       Wähler*innen der Partei sind palästinensische Israelis. Khenin wiederum
       ist einer der wenigen jüdischen Israelis, die für diese Partei in der
       Knesset gesessen haben – und er ist der vielleicht unerschütterlichste
       Optimist Israels.
       
       ## Wiederbelebungsversuche des Friedensprozesses
       
       Khenin glaubt, dass die Oslo-Abkommen an sich, trotz einiger Probleme, gut
       gewesen seien. Doch kratzten einige Linke schon früh am Image der
       Verhandlungen in Oslo Mitte der neunziger Jahre: Das Friedensabkommen habe
       Sollbruchstellen gehabt, glauben sie. Nicht wegen der Kritik von rechts,
       die den Friedensprozess als Betrug an Israel verstanden, mit zu vielen
       Zugeständnissen an die Palästinenser*innen. Sondern weil es ein fauler
       Frieden war, der verkauft werden sollte.
       
       Das Oslo-Friedensabkommen, so argumentieren sie, habe die palästinensische
       Autonomiebehörde zum langen Arm der Besatzung gemacht. Israel habe sich
       wirtschaftliche Vorteile dadurch versprochen, einen Teil der bürokratischen
       Verantwortung über das Westjordanland in palästinensische Hände zu geben.
       Währenddessen schuf der [3][fortschreitende Siedlungsbau] Tatsachen. Ein
       Frieden auf Augenhöhe mit den Palästinenser:innen sei das nie
       gewesen.
       
       Es gab ein paar Wiederbelebungsversuche des Friedensprozesses, keiner von
       ihnen zeigte Wirkung. Sie zementierten nur die Nutzlosigkeit, die das Wort
       Frieden mittlerweile erfüllte – in allen Lagern.
       
       Im rechten herrscht heute der Glaube, dass man den Konflikt verwalten kann.
       Ab und zu gibt es ein paar israelische Opfer, ab und zu eine
       „Militäroperation“ in Gaza, aber im Großen und Ganzen spürt man wenig von
       dem Konflikt, während man in Tel Aviv Cappuccino trinkt. „HaMaaracha ben
       HaMilchamot“ – „die Kampagne zwischen den Kriegen“ lautet ein feststehender
       Begriff im Hebräischen. Er beschreibt die Aktionen des Geheimdienstes und
       des israelischen Militärs zwischen den Kriegen, mit denen der nächste Krieg
       mit feindlichen Ländern hinausgezögert werden soll. Aber ist Frieden nicht
       mehr als eine kurze Abwesenheit von Krieg? Ist Frieden nicht mehr, als sich
       den größten Teil der Zeit bequem in der Abwesenheit von Krieg einzurichten,
       während Palästinenser*innen durch die Trennungspolitik für
       israelische Augen unsichtbar gemacht werden?
       
       ## Diejenigen, die das Wort „Frieden“ wiederbeleben
       
       Kassandrarufe warnen, dass die Situation jederzeit explodieren könnte:
       „Niemand ist so gefährlich, wie ein verzweifelter Gegner“, sagen die
       warnenden Stimmen. Nun, da es im Westjordanland brodelt, könnte die
       Richtigkeit dessen einmal mehr sichtbar werden.
       
       Unter Linken gibt es heute kaum noch welche, die sich
       „Friedensaktivist*innen“ nennen, eher „Kritiker*innen der Besatzung“. Statt
       von Frieden sprechen sie von „gemeinsamem Kampf“ und „Übergangsjustiz“.
       Gemeinsam haben diese Begriffe, dass sie die Unterdrückung der
       Palästinenser*innen in den Vordergrund stellen und – anders etwa als
       beim Oslo-Friedensprozess – nicht von gleichgestellten Partnern ausgehen.
       
       Zunehmend wird der Konflikt zwischen Israel und Palästinenser*innen
       unter Linken auch als Kolonialismus gelesen. Es ist ein Wort, das es schwer
       macht, gleichzeitig von Frieden zu sprechen. „Auch den Algeriern hat ja
       niemand gesagt, dass sie endlich mit Frankreich Frieden schließen sollten“,
       sagte einmal ein Freund und israelischer Aktivist zu mir.
       
       Doch noch gibt es sie, diejenigen, die das Wort „Frieden“ wiederbeleben
       wollen. Eingedenk aller Kritik. So wie Eilat Maoz, die vielleicht – wie sie
       selber lachend sagt – einzige Person in Israel, die zugibt, über das Thema
       Frieden noch ernsthaft nachzudenken.
       
       ## Auf Augenhöhe mit den Palästinenser*innen
       
       Die 38-jährige Anthropologin und Aktivistin aus Haifa kann eloquent von
       Walter Benjamin zum Urvater der Kolonialismuskritik, Frantz Fanon, springen
       und von dort weiter zu Karl Marx. Doch fragt man sie nach Frieden,
       verstummt sie kurz: „Meines Erachtens ist der Wunsch nach Frieden etwas
       sehr Grundlegendes“, sagt sie dann. Genau deswegen möchte sie das Wort
       Frieden wiederbeleben. „Auch wenn man auf den Konflikt durch die Brille des
       Kolonialismus blickt“, sagt Maoz: „Der Plan für die Linke kann nicht sein,
       die Kolonisatoren rauszuschmeißen, sondern Kolonialismus hinter uns zu
       lassen.“ Das Ziel könnte ein Prozess sein, der nicht die Fehler von Oslo
       wiederholt, der auf Augenhöhe mit den Palästinenser*innen passiert,
       gewissermaßen „von unten“.
       
       Und dann gibt es noch Roni Keidar, die in ihrem Zuhause an der Grenze zum
       Gazastreifen gemeinsam mit den Palästinenser*innen auf der anderen
       Seite der Grenze gegen die Besatzung kämpft und möglicherweise niemals
       aufgegeben hat, sich als Friedensaktivistin zu bezeichnen: „Viele sagen,
       ich sei eine Träumerin. Aber das bin ich nicht. Wer denkt, dieser Konflikt
       von zwei Gruppen um das gleiche Land ließe sich mit Gewalt lösen, der
       träumt. Wer glaubt, die Besatzung ließe sich verwalten – der ist ein
       Träumer. Ich mit meinem Glauben an Frieden, ich bin die Realistin.“ Und
       ich, als Außenstehende, habe dem nichts hinzuzufügen.
       
       28 Oct 2022
       
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