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       # taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Wir fingen an zu weinen
       
       > Sie will ein normales Leben. Nur, was ist normal im Krieg? Dass man
       > Zusammenhänge schneller begreift Verantwortung übernimmt?
       
   IMG Bild: Rauchwolken über Lviv nach einem russischen Bombeneinschlag am 10. Oktober 2022
       
       Als der Krieg begann, pausierte Polina Fedorenko, 21, gerade mit ihrem
       Informatikstudium. Sie wollte das Fach wechseln und studiert mittlerweile
       Soziologie. Fedorenko kommt aus Kyjiw. Inzwischen lebt sie in Lwiw,
       arbeitet als Mathe-Nachhilfelehrerin und bestückt im Rahmen eines
       Freiwilligendienstes einen ukrainischen Newsticker mit Meldungen aus dem
       Krieg. 
       
       ## Meine Mitbewohnerinnen
       
       Ich weiß, dass wir als 15-Jährige nie Freunde geworden wären. Ich war
       damals eine von diesen Nerds und ich war verliebt in dystopische Romane.
       Olya dagegen ging zu der Zeit schon als Freiwillige und Fotografin zu
       Konzerten von Musikgruppen. Und Ira fing an, alle Jungs um sie herum dazu
       zu bringen, sich in sie zu verlieben.
       
       Aber jetzt kann ich mir ein Leben ohne die beiden nicht mehr vorstellen.
       
       Wenn ich in der Onlineklasse sitze und Olya mich zur Begrüßung umarmt, weil
       sie zwei, drei Stunden nach mir aufsteht. Wenn ich etwas lese und Ira kommt
       und sich einfach neben mich legt und anfängt, über eine Menge Dinge
       gleichzeitig zu reden, obwohl ich weiß, dass es nur ein Versuch ist, dem zu
       entkommen, was sie am meisten beschäftigt: die Angst, dass ihr Vater nicht
       lebend zurückkehren wird.
       
       Am Abend zuvor haben wir uns eine Sendung auf Netflix angeschaut. Es war
       ein langer Tag. Ira weinte auf Olyas Schoß.
       
       Ich habe Angst, dass sie an ihrer Angst um den Vater zerbricht.
       
       Dass diese Angst sie lähmt.
       
       Dass diese Angst ihr jenes Leben nehmen wird, in dem sie beim Frühstück
       singt, in dem sie Adele auf dem Klavier spielt, in dem sie mir mit
       brennenden Augen von ihrer Nichte und ihrem Diplomthema erzählt.
       
       Ich habe große Angst um sie.
       
       Ich wünschte, wir hätten schon gewonnen und ihr Vater wäre da. Und sie
       hätten zu Hause über etwas Interessantes gesprochen. Und Ira würde ihn
       durch diese Wohnung führen, in der wir zu dritt leben.
       
       Ich fühle mich so privilegiert, einen Vater zu haben. Dass er in der Nähe
       meiner Familie ist. Dass ich mir keine Sorgen um sein Leben machen muss.
       Dass er dort sein kann, neben meiner Mutter, neben Sonja und Jaroslaw.
       
       Unter all diesen Menschen, deren Väter für unsere Freiheit kämpfen oder die
       bereits dafür gestorben sind, fühle ich mich in sehr guter Gesellschaft. In
       einer Gesellschaft, die weiß, dass Freiheit einen Preis hat. Und dass wir
       ihn jetzt alle bezahlen, nur um am Samstagmorgen Kaffee trinken gehen zu
       können oder das Gewitter vor dem Fenster zu betrachten, ohne zu befürchten,
       dass der Donner eine Explosion ist.
       
       ## Kriegsereignisse
       
       In der Ukraine fühlt es sich gerade so an, als wäre man während eines
       Tsunamis am Strand.
       
       Ich schnappe nach Luft.
       
       Aber sieben Monate sind schon vergangen. Und ich kenne inzwischen ein paar
       Tricks, wie ich besser an die Oberfläche komme, um nicht unter der nächsten
       Welle zu sterben.
       
       Trotzdem: Ich kann sagen, dass ich durch Luftalarme ängstlicher geworden
       bin. Irgendwann dachte ich, ich wäre daran gewöhnt. Aber jetzt fange ich
       bei jedem Geräusch, das sich wie das Einsetzen einer Sirene anhört, an zu
       zittern.
       
       Der Sirenendienst der Ukraine hat diesen Monat Alarmkontrollen auf
       Telefonen durchgeführt, damit wir alle wissen, was zu tun ist, wenn es zu
       einer nuklearen Explosion kommt. Beim ersten Mal, als diese Atomwarnung auf
       mein Handy kam – ein mega durchdringender Ton, der mit nichts zu
       verwechseln ist – dachte ich, ich bekomme einen Herzinfarkt.
       
       Während der letzten anderthalb Monate ist die Welt am dritten Weltkrieg
       vorbeigeschrammt. Und an einer Atomkatastrophe. Mehrfach schon haben die
       Russen das Gelände des AKW Saporischschja beschossen.
       
       Wir haben [1][in der Oblast Charkiw eine glänzende Gegenoffensive geführt].
       Es waren ein paar gute Tage, als in den Nachrichten nur Videos von unseren
       Soldaten zu sehen waren, die die ukrainische Flagge an Verwaltungsgebäude
       der befreiten Städte aufhingen.
       
       Dann gab es ein paar schreckliche Tage, an denen der gesamte Newsfeed mit
       dem Foto eines Handknochens mit einem gelb-blauen Armband bedeckt war – das
       Militär fand Massengräber von Ukrainern in den befreiten Gebieten.
       
       Ich hatte fast jeden Tag Wutanfälle.
       
       ## Was kürzlich geschah
       
       Ein Teil der Kämpfer des Asowschen Regiments wurde aus russischer
       Gefangenschaft entlassen. Vor Kurzem wurde ein Foto in den sozialen
       Netzwerken veröffentlicht, das den Fotografen Orest zeigt. Die Russen haben
       ihn in Gefangenschaft fast ausgehungert. (Andere wurden [2][im
       Gefangenenlager Olenivka] gleich getötet.)
       
       Aber seine Augen. Habt ihr die Augen von Orest gesehen? Dies sind die Augen
       eines Mannes, der durch die Hölle gegangen ist, und der weiß, dass eine
       bessere Zukunft vor ihm liegt. Er sah einen Sinn in seinem Leiden. Ich
       frage mich, ob Orest die Gedanken [3][des Holocaustüberlebenden Viktor
       Frankl] bestätigen würde, dass es an jedem Einzelnen liege, ob er seine
       Würde verliere, und dass Aussöhnung einen sinnvollen Ausweg aus den
       Katastrophen eine Krieges weise.
       
       ## Wichtige Ereignisse in meinem Leben
       
       Ich war von Ende August bis fast Mitte September drei Wochen in Kyjiw.
       
       Ich habe es geschafft, mein Hauptfach auf Soziologie zu ändern.
       
       Ich habe mich bei der NGO WithUkraine registriert.
       
       Mein jüngerer Bruder geht in die erste Klasse.
       
       Meine jüngere Schwester hat ein Medizinstudium aufgenommen
       
       Anfang Oktober hatte ich meine ersten Vorlesungen in Soziologie, und ich
       bin verliebt in diese Wissenschaft.
       
       ## Das BookForum
       
       In Lwiw findet jedes Jahr, ich weiß nicht seit wann, das „[4][Lviv
       BookForum“] statt. Normalerweise versammeln sich dort Leute aus der
       Verlagsbranche, sprechen über neue Bücher, Formate und Errungenschaften.
       Dieses Jahr ging es beim BookForum überhaupt nicht ums Geschäft. Vielmehr
       haben die Organisator*innen Leute eingeladen, die sich mit den Themen
       Völkerrecht, Propaganda, Geschichte, Aktivismus auskennen. Und
       Regierungsmitglieder, die sich für die Bekämpfung russischer Desinformation
       einsetzen.
       
       Als ich mit einem Freund, einem Kollegen von WithUkraine, dort saß, wurde
       mir klar: Es gibt eine Kluft zwischen der Ukraine und dem Rest der Welt.
       Wir von WithUkraine versuchen, sie zu schließen, indem wir das Ausland über
       die Geschichte der Ukraine aufklären, über die langen und schrecklichen
       Beziehungen zu Russland, über all die Völkermorde, die hier von Russland
       begangen wurden. Doch aus irgendeinem Grund werden wir, emotionale
       Ukrainer*innen, die diese historischen Verbrechen herausschreien, nicht
       gehört. Der Vorwurf: Wir seien nicht objektiv.
       
       Und dann wird [5][der Friedensnobelpreis] an die ukrainische
       Menschenrechtsorganisation CCL, an Russen und an einen Belarussen
       verliehen, und ich möchte sagen: „Guten Tag!“ Das fühlt sich doch wie eine
       falsche Message des Nobelpreis-Komitees an – dass nämlich ukrainische,
       russische und belarussische Menschen doch immer noch eine Gruppe sind. Und
       dies, obwohl die Ukraine jeden Tag von Leuten der anderen Länder
       bombardiert wird. Ukrainer*innen sterben jeden Tag durch sie und zwar
       deshalb, weil sie entschieden haben, dass sie in diesem Land leben wollen.
       
       Und jetzt die Frage: Kann eine Person, in deren Haus Bewaffnete
       eindringen, die die Bewohner*innen vergewaltigen, ausrauben, töten,
       unter dem Vorwand Neonazis auszurotten, das hinnehmen? Aber die, die das
       von außen beobachten, sagen: „Nun, das ist ihre gemeinsame Wohnung. Sie
       sind Brüder und Schwestern, Verwandte. Und im Allgemeinen eine Nation!“
       
       Ich bin sehr böse. Es tut mir leid.
       
       Tja, und dann [6][drängt sich noch Elon Musk mit rein] und sagt, dass die
       Krim zu Russland gehört.
       
       Mein Freund und ich redeten darüber, dann setzten wir uns hin und fingen an
       zu weinen
       
       Aus dem Englischen von Waltraud Schwab
       
       23 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Teilweiser-Rueckzug-russischer-Truppen/!5881518
   DIR [2] /Toedlicher-Angriff-auf-ukrainische-Kriegsgefangene/!5871239
   DIR [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Viktor_Frankl
   DIR [4] https://bookforum.ua/en
   DIR [5] /Friedensnobelpreise-2022/!5884261
   DIR [6] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5885188
       
       ## AUTOREN
       
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