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       # taz.de -- Fabeln von Günther Anders: Schuld und Strafe in Molussien
       
       > Wiederauflage von „Der Blick vom Turm“: Der Literat und Philosoph Günther
       > Anders war ein Meister der Fabel.
       
   IMG Bild: Günther Anders 1965
       
       Fabeln gehen zurück auf den legendären griechischen Autor Äsop, von dessen
       Leben außer seinem Werk nichts überliefert ist. Sie sind ein hybrides
       literarisches Genre zwischen Philosophie und Literatur in erklärter
       pädagogisch-didaktischer Absicht.
       
       [1][Der Intellektuelle, Literat und Philosoph Günther Anders,] der als
       Günther Stern (1902 bis 1992) geboren wurde, pflegte dieses Genre neben
       seinen philosophischen politischen, zeit- und medienkritischen Schriften,
       aus denen die zweibändige Kritik des Atomzeitalters unter dem Titel „Die
       Antiquiertheit des Menschen“ (1956/80) herausragt. Anders’ Sammlung von
       rund 100 Fabeln, die zwischen 1931 und 1968 entstanden sind, erschien
       zuerst 1984 und wurde nun erneut zugänglich gemacht vom Verlag C. H. Beck.
       
       Das zwischen erzählender Prosa und philosophischer Reflexion changierende
       Genre der Fabel hat Anders zu unbestreitbarer Meisterschaft entwickelt, mit
       der er Dialoge, Sentenzen, Anekdoten und Aphorismen verbindet. Einige
       spielen in dem fiktiven Land Molussien, das Anders erfunden hat, um
       Zustände und Ereignisse im Deutschland Hitlers zu glossieren.
       
       Sie sind literarisch verpackte Aufklärung und offene Faschismuskritik –
       etwa in dem Stück „Das Mikroskop“, das von einer Gesellschaft handelt, in
       der alle Einwohner unter einer Krankheit leiden, die jedoch alle verleugnen
       bis auf einen Forscher, der sich vergeblich um Aufklärung bemüht gegen eine
       Front von Dunkelmännern.
       
       Eine andere Fabel dreht sich um das Buhlen der Schwestern „Strafe“ und
       „Schuld“ um das Erstgeburtsrecht beim blinden Schöpfergott Zoa, wobei sich
       die Strafe zunächst durchsetzt, worauf sich die molussischen Theologen auf
       die astrein moralische Devise einigen: „Die Schuld folgt der Strafe auf dem
       Fuße“ – mit der trostreichen Pointe: „Heute (1945!) leben die zwei
       Schwestern in schönster Eintracht“.
       
       ## Verrückte Dimensionen
       
       Fabeln leben von überraschend verrückten Dimensionen und plötzlichen
       Perspektivwechseln, die das Vertraute unvertraut und das Unsichtbare
       sichtbar oder das Große klein und das Kleine groß machen, verfremden.
       
       Das fiktive Einstellungsgespräch eines Zeitungsredakteurs mit dem
       Philosophen Zeno etwa dreht sich um die Frage, „ob es wirklich genügt, so
       wenig zu wissen und so wenig Maßstäbe zu haben, wie man haben muss, um in
       ihrem Blatte eine Dichtung zu kritisieren; und so wenig Skrupel zu kennen,
       wie man bei ihnen kennen muss, um einem Mitbürger die Ehre abzuschneiden?“
       
       26 Oct 2022
       
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