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       # taz.de -- Protestbewegung in Iran: Die Alternative ist da
       
       > Immer wieder stößt unsere Autorin in der Berichterstattung über Iran auf
       > Narrative des islamischen Regimes. Mit diesen, findet sie, gehört
       > aufgeräumt.
       
   IMG Bild: Zigtausende unterstützen auf einer Demonstration in Berlin die iranische Protestbewegung
       
       In ihrem [1][Kommentar in der vergangenen Woche] in der taz hat die Autorin
       Charlotte Wiedemann unter dem Titel „Keine spontane Heilung“ dargelegt,
       weshalb der Sturz des Regimes in Iran ein beängstigendes politisches Vakuum
       hinterlassen würde: „Weder im Inland noch im Ausland ist eine demokratische
       Kraft erkennbar, die in Teheran Verantwortung übernehmen könnte, wenn das
       jetzige System implodiert“, schreibt sie. Das Land, so Wiedemanns Furcht,
       gehe entweder einer Militärdiktatur oder dem Staatszerfall entgegen.
       
       Mit ihrer Feststellung, ein politisches Folgekonzept sei noch nicht
       entwickelt, mag Wiedemann recht haben. Und doch: Die Bevölkerung, die
       Veränderung fordert und bereit ist, dafür zu kämpfen, ist da. Wenn auch
       ungewollt, übernimmt Wiedemann mit ihrer Argumentation, die der iranischen
       Bevölkerung eine Mitschuld an der desaströsen Lage des Landes gibt,
       iranische Staatspropaganda. Und damit steht sie nicht allein. Immer wieder
       werden von progressiven Menschen im Westen unwissentlich Narrative der
       islamischen Führung verbreitet.
       
       ## Angebliche Alternativlosigkeit
       
       Da ist zum Beispiel die Erzählung von der angeblichen Alternativlosigkeit
       zur Islamischen Republik, die als Angstmacher wirkt. Was westliche
       Beobachter*innen oft zu vergessen scheinen: Der Staatsapparat selbst
       verhindert systematisch die Bildung einer Opposition in Iran, indem er
       jeden Schritt zur demokratischen Selbstorganisierung kriminalisiert. Es
       gibt unzählige politische Gefangene in Iran, Männer wie Frauen, jung und
       alt, die nur deshalb inhaftiert wurden, weil sie versucht haben, sich zu
       organisieren.
       
       Die Veterinärstudentin und Aktivistin Sepideh Gholian, die Rechtsanwältin
       und Menschenrechtlerin Nasrin Sotudeh, die Vizepräsidentin des Defenders of
       Human Rights Center Narges Mohammadi, der Blogger Hossein Ronagh … Die
       Liste ließe sich immer weiter verlängern, vor allem mit den vielen
       Namenlosen, die täglich in den Gefängnissen landen, verschleppt oder
       getötet werden.
       
       Alle sozialen Gruppen, die versuchen sich zusammenzuschließen, trifft diese
       Repression. Das sind nicht nur Frauen, sondern auch ethnische Minderheiten,
       religiöse Minderheiten wie Bahais, sexuelle und Genderminderheiten,
       Arbeiter*innen, links und liberal orientierte politische
       Aktivist*innen und Feminist*innen. Auch diese Liste ist lang.
       
       Hinzu kommt, dass Betroffene sogar aus den Gefängnissen heraus Widerstand
       leisten und der iranische Staat auch jede [2][aufkeimende Opposition im
       Ausland] mit unterschiedlichen Vorwürfen zu verhindern sucht. Zu diesen
       Vorwürfen gehören zum Beispiel: die Zugehörigkeit oder Nähe zu einer
       terroristischen Organisation, Spionage, das Befürworten eines Kriegs und
       Korruption. Das Fehlen an politischen Alternativen unter diesen Umständen
       der unorganisierten Opposition anzulasten, kommt einer Verschiebung des
       Diskurses gleich.
       
       ## Fragwürdige Schuldaufteilung
       
       Gleiches gilt für den Versuch einer Schuldaufteilung zwischen Bevölkerung
       und Staat. Denn der iranische Staat funktioniert wie eine Mafiabande und
       hat sich als militarisierte Diktatur in der Region etabliert. Diese
       Position hat das Regime in den vergangenen 43 Jahren durch die
       systematische „Säuberung“ des Landes von Intellektuellen und
       politischen Gefangenen gefestigt. Andersdenkende wurden mundtot gemacht.
       
       Dabei gaben die iranischen Machthaber stets vor, sich auf eine große
       soziale Basis stützen zu können: Die Mehrheit der Iraner*innen sei
       demnach für ihre Politik mitverantwortlich.
       
       Natürlich war die iranische Mehrheitsgesellschaft Teil der Islamischen
       Revolution. Aber der Staat hat seither jegliche organische
       gesellschaftliche Entwicklung strikt verhindert. Eine Entwicklung hin zu
       einem modernen Land hat das Regime längst nicht mehr vor, wenn es das
       überhaupt je vorgesehen hatte. So richtig es sein mag, die Schuldfrage zu
       stellen, sie zu diskutieren, ist trotzdem Teil der staatlichen Propaganda
       in Iran.
       
       Gleiches gilt für die Behauptung, wonach der Sturz der islamischen Führung
       Iran zu destabilisieren drohe. Die Mär von der angeblichen Destabilisierung
       des Landes diente bereits als Grundlage für Todesurteile gegen
       oppositionelle Iraner*innen. Falsch ist sie allein deshalb, weil mit ihr
       die Lage des Landes zunächst einmal für stabil erklärt wird – trotz der
       Korruption, der desaströsen Wirtschaftslage und Menschenrechtssituation.
       
       Falsch ist der Vorwurf auch, weil er die augenscheinliche Stabilität des
       Staats mit der Stabilität der Gesellschaft gleichsetzt. Politischen
       Gefangenen und Andersdenkenden, wie den nun Protestierenden, wird so
       vorgeworfen, sie seien diejenigen, die für die Labilität Irans
       verantwortlich seien – eine eindeutige Täter-Opfer-Umkehr.
       
       Viele Iraner*innen sagen seit Jahren, welchen Preis sie für die
       Stabilität des Regimes zahlen: dass sie unter permanenter Angst leben
       müssen. Ein stabiler Staat? Das ist der Staat, der durch seine militärische
       Abenteuerpolitik nicht nur Iran, sondern die gesamte Region destabilisiert.
       
       Mein Eindruck ist: Kommentator*innen im Westen, die sich als links
       verstehen, haben sich all die Jahre damit abgefunden, dass die
       Iraner*innen keinen Ausweg aus ihrer unmöglichen Situation finden.
       Sicher, der Kontakt mit den Menschen in Iran wird [3][vom Regime sehr stark
       erschwert], da es die eigene Bevölkerung nach Kräften versucht von der
       Außenwelt abzuschotten.
       
       Hinzu kommt, dass viele der westlichen Beobachter*innen mangels
       Sprache und Zugang weder die Propagandazeitungen des Staats noch die Texte
       der oppositionellen Akteur*innen lesen können. Das ist ein Grund,
       weshalb die iranische Führung ihre Ideologie nach wie vor im Westen
       verbreiten kann.
       
       Iraner*innen, die heute auf der Straße sind, fordern uns im Westen dazu
       auf, der Propaganda des iranischen Regimes zu widersprechen. Tun wir es!
       
       28 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
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   DIR [2] /Iranische-Proteste/!5886852
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       ## AUTOREN
       
   DIR Mina Khani
       
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