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       # taz.de -- Sparen in der Energiekrise: Der Stadt gehen die Lichter aus
       
       > In der Nacht soll es nicht mehr leuchten in der Stadt. Um Energie zu
       > sparen. Wie aber verträgt sich das mit der gefühlten Sicherheit?
       
   IMG Bild: In der Spitaler Straße in Hamburg lassen die einen ihre Schilder weiter leuchten, die anderen nicht
       
       Wie eine Stadt gemacht ist, das sieht man am besten zur Nachtzeit“: Nehmen
       wir Jean Cocteau mal bei seinem Bonmot: Was erzählen dann die Nächte in
       diesem Herbst über Deutschlands Städte? Es ist doch manches anders gerade,
       und das nicht erst, seit im gar nicht fernen Osten der Krieg zurückgekehrt
       ist nach Europa. Weil aber der russische Aggressor ein Dealer war auch für
       Energie, dieses Dope des Kapitalismus, muss nun Energie gespart werden,
       also Wärme und Strom und damit Licht.
       
       Das ist keine Lappalie. Denn ob Städte sich beleuchten – und wie sie das
       tun –, das ist nie nur technischen Erfordernissen oder auch Möglichkeiten
       geschuldet. Es erzählt immer auch etwas mit übers Selbstverständnis derer,
       die dort wohnen. Oder zumindest derjenigen, die dort das Sagen haben.
       
       „Um eine Notsituation bei der Energieversorgung im Winter zu vermeiden“, so
       hat es [1][die Bundesregierung formuliert], müssen wir nun alle
       „zusammenarbeiten“.
       
       Wir, das sind „Politik, Unternehmen und Verbraucherinnen und Verbraucher“,
       denn jede eingesparte Kilowattstunde „hilft gegen die Abhängigkeit von
       russischen Gaslieferungen“.
       
       Eine der da erlassenen Maßnahmen ist vielerorts auch gut zu bemerken:
       Öffentliche Gebäude stehen seit dem 1. September im Dunkeln, werden also
       nicht wie gewohnt stimmungssteigernd mit Licht in Szene gesetzt. Was beim
       Justizpalast um die Ecke weniger auffallen mag als bei den
       postkartenberühmten Wahrzeichen. Im Turm des Hamburger Michels etwa brennt
       abends nur noch eine einsame Funzel, vermutlich ein Hinweis auf den
       nächsten Notausgang.
       
       ## Nichts eindeutig bei Sparmaßnahmen
       
       Nicht ganz so eindeutig ist die Lage bei einer anderen Blüte im Strauß der
       konzertiert Sparenden: der freien Wirtschaft. Die „Verordnung zur Sicherung
       der Energieversorgung über kurzfristig wirksame Maßnahmen“ alias, kein
       Witz!, „Kurzfristenergieversorgungssicherungsmaßnahmenverordnung –
       EnSikuMaV“, untersagt den „Betrieb beleuchteter oder lichtemittierender
       Werbeanlagen“ von 22 Uhr bis immerhin 16 Uhr des Folgetages.
       
       Die Umsetzung? Na ja. In den Fußgängerzonen lassen die einen ihre Schilder
       und Schaufenster munter weiter leuchten, die anderen nicht. Ausnahmen kennt
       nun aber auch die erwähnte Verordnung, dann etwa, „wenn die Beleuchtung zur
       Aufrechterhaltung der Verkehrssicherheit oder zur Abwehr anderer Gefahren
       erforderlich ist“ – worauf sich natürlich keine „New Yorker“-Filiale wird
       berufen können. Vielleicht aber darauf, dass die existierende Beleuchtung
       „nicht kurzfristig durch andere Maßnahmen ersetzt werden kann“?
       
       Auch zur Frage offen stehender, also beheizte Luft nach draußen lassender
       Ladentüren hat das Regelwerk etwas zu sagen. Im etwas weiteren Sinne
       bringen uns die geöffneten Pforten aber auch wieder zum Lichtthema zurück:
       So haben Teile des Handels sich nicht nur verpflichtet, dann weniger zu
       leuchten, wenn ohnehin kein Geschäft zu machen ist. Einige gehen auch an
       die Öffnungszeiten selbst: Aldi Nord etwa [2][schließt „zahlreiche“ – aber
       nicht alle – Filialen] ab dem 1. November abends um 20 Uhr, also eine,
       teils sogar zwei Stunden früher als gewohnt – „und leistet damit aktiv
       einen Beitrag zum Energiesparen“, so die Pressestelle.
       
       Sicher – eine zu beleuchtende und beheizende Stunde weniger, das wird sich
       irgendwie quantifizieren lassen, auch wenn das andere Kostenfaktoren
       unangetastet lässt: Die Ware kühlen etwa muss man ja trotzdem.
       
       Gut möglich, dass der Discounter zuallererst seine zu dünn gewordene
       Personaldecke entlastet durch die ach so planetenfreundliche Maßnahme.
       Sei’s drum: Erste andere Supermärkte überlegen, ob sie mitziehen sollen,
       [3][das meldet hie und da] die Lokalpresse.
       
       Was aber macht die vorerst nicht absolute, mal mehr, mal weniger merkliche
       Nichtbeleuchtung mit unseren Städten? Deren immer wieder besungenes,
       manchmal auch nur beanspruchtes Besonderes: Es hat sich immer auch ablesen
       lassen an ihren Lichtern. Wir sprechen von leuchtenden Metropolen, von den
       Lichtern der Großstadt. Sogar da, wo das Beschienene nicht so vorzeigbar
       ist, wo sie Sünde und Schmuddel illuminieren, bleiben – dann gern auch mal
       rote – Lampen von Bedeutung.
       
       Bisher ziemlich unbeeindruckt von allen Sparvorgaben aus dem
       Bundeswirtschaftsministerium zeigt sich seit nun beinahe zwei Monaten, was
       sie in Hamburg den Kiez nennen, also das Ausgeh- und Prostitutionsviertel
       um die Reeperbahn herum. „Klar, dass die Beleuchtung wichtig ist, für den
       Standort und die Sicherheit“, das sagte Lars Schütze, Kopf der
       „Interessengemeinschaft St. Pauli“ Ende September [4][dem Hamburger
       Abendblatt]. Das Viertel ist demnach „ein Gesamtkunstwerk“, so Schütze
       weiter. „Wenn die Lichter ausgehen, ist die Stimmung weg, dann wird es
       schwierig.“
       
       Für eine zunehmend auf den Fremdenverkehr setzende Stadt ist das eine
       wichtige, gleichwohl nicht so einfach zu kalkulierende Größe, diese
       Stimmung. Etwas Ruch und Grusel braucht eine Ortsmarke wie St. Pauli, soll
       sie nicht verwechselbar werden mit irgendeiner Ansammlung von Kneipengassen
       – aber zu viel davon halt auch nicht: Das Musical- und
       Elbphilharmoniepublikum muss sich schon immer noch hierhertrauen.
       
       ## Das Licht und die gefühlte Sicherheit
       
       Überlegungen zum Lichtsparen, auch Streit darüber, sind älter als der
       russische Angriff auf die Ukraine: wegen der Folgen von zu viel Licht auf
       Mensch, Tier und Pflanze, wegen des Klimawandels. Zuverlässig angestimmt
       wird auch [5][die Sorge wegen allzu dunkler Ecken]. Mag auch der
       Zusammenhang zwischen viel Licht und viel Sicherheit [6][so eindeutig nicht
       sein], die Verbindung zwischen Helligkeit und dem Gefühl von Sicherheit,
       [7][die ist stabil]. Und mit dem gezielten Kratzen an der gefühlten
       Sicherheit sind hier in der Stadt mit Hafen schon Wahlen gewonnen worden.
       
       Der Frankfurter Geograf und Stadtforscher Jürgen Hasse wies 2007 auf eine
       mögliche kulturspezifische Grundlage des trügerischen Zusammenhangs hin:
       „In etymologischer Sicht sind alle mit dem Licht assoziierten und kulturell
       kommunizierten Bedeutungen positiv konnotiert.“ In der Tat werden etwa
       Hellsichtigkeit und Lichtbringer für gut erachtet, Schattendasein und
       Dunkelziffer dagegen nicht.
       
       Ende August, da warf die Energiesicherungsverordnung noch ihren Schatten
       voraus, warnte der Handelsverband Deutschland vor zu viel Sparsamkeit. „Mit
       der Schaufensterbeleuchtung sorgen wir auch für Sicherheit und soziale
       Verantwortung in den Städten“, so Hauptgeschäftsführer Stefan Genth, gerade
       auch „in den weniger frequentierten Zeitfenstern“. Aber werden die „neuen
       Angsträume“, vor denen etwa der nordrhein-westfälische Innenminister
       Herbert Reul im September warnte, wirklich von zu wenig Licht in der
       Fußgängerzone verursacht? Oder nicht auch von anderen, schwerer zu
       ändernden Faktoren?
       
       Stefan Genths Formulierung „weniger frequentiert“ ist ja eine freundliche
       Umschreibung für den Zustand vieler deutscher Innenstädte after dark: Wo
       jahrzehntelang alles verdrängt wurde, was kein lukrativer Gewerbemieter
       war, verwaist der sogenannt öffentliche Raum, wenn bald die Läden
       schließen. Was soll man denn dann auch da? Corona und das zeitweise
       Herunterfahren des Einkaufsbummels hat die Krise verschärft, aber nicht
       verursacht.
       
       Überraschend nur auf den ersten Blick: Am Hamburger Jungfernstieg, zentral
       gelegener Ausläufer gehobener Shopping-City und tagsüber beliebter
       Tourist:innen-Anlaufpunkt, beklagten Anlieger und Polizei vor einigen
       Jahren ein abendliches Zuviel an Menschen, allerdings der falschen. Der
       Hinweis auf eine „Sprachmischung aus Arabisch und Farsi“ in der
       Berichterstattung sollte wohl tiefergehende Analysen ersetzen, und bei
       einem Teil des deutschen Publikums verfängt das ja auch.
       
       Die Polizei stellte damals Masten mit Scheinwerfern auf, mehr Licht sollte
       die sich dort am Abend treffenden Menschen vertreiben. Freilich: „Warum die
       Prachtmeile mit Sonnenuntergang zur Problemzone wird“, das [8][fragte die
       Hamburger Morgenpost] Ende September erst.
       
       Andere Strategie: Wie sich die Hamburger Innenstadt wieder zum Wohnen
       nutzen lassen könnte, darüber richtete die Stadt gerade erst eine
       partizipative „Stadtwerkstadt“ aus; in einem ehemaligen Kaufhaus, das für
       ein halbes Jahr subventioniert an Kreative vermietet wird und abends gerade
       auch ziemlich dunkel dasteht. Gleich daneben wird demnächst die
       Weihnachtsdeko aufgehängt. Die soll dieses Jahr wieder leuchten – Russlands
       Krieg hin, leere Gasspeicher her.
       
       30 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/energiesparmassnahmen-2078224
   DIR [2] https://twitter.com/ALDINord_Presse/status/1582386022708486145
   DIR [3] https://www.wa.de/verbraucher/aldi-nord-oeffnungszeiten-verkuerzt-frueher-ladenschluss-20-uhr-maerkte-filialen-discounter-energie-sparen-91859808.html
   DIR [4] https://www.abendblatt.de/hamburg/article236541941/energiekrise-hamburg-st-pauli-ignoriert-habecks-vorgaben-mit-ausnahme-energiesparen.html
   DIR [5] https://www.paten-der-nacht.de/das-problem-mit-der-gefuehlten-sicherheit-durch-strassenlaternen/
   DIR [6] https://jech.bmj.com/content/69/11/1118
   DIR [7] https://www.weser-kurier.de/bremen/stadtteil-mitte/wie-sich-strassenbeleuchtung-auf-das-sicherheitsgefuehl-auswirkt-doc7e490e3k5k318dimqomh
   DIR [8] https://www.mopo.de/hamburg/polizei/problem-zone-jungfernstieg-tagsueber-shoppen-nachts-wird-gesoffen/?reduced=true
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alexander Diehl
       
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