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       # taz.de -- Hans Werner Henze in der Staatsoper: Die Revolution im Wohnzimmer
       
       > Linden 21 heißt ein Spielort der Staatsoper für kleine Formate. Dort
       > inszenierte Pauline Beaulieu „La Piccola Cubana“ von Hans Werner Henze.
       
   IMG Bild: Victoria Randem als Rachel in der Oper „La Piccolo Cubana“ von Henze/Enzsensberger
       
       Vor silbernen Plastikpalmen steht auf rotem Kunstsand die Sängerin Victoria
       Randem im goldenen Paillettenkleid, um die schmalen Schultern eine
       kubanische Flagge. Zu den gedämpften Klängen eines Instrumentalensembles
       nimmt sie Abschied vom Theater. „Ich weiß ja, sie ist nur eine Illusion“,
       singt sie über die große Bühne, die so viel verspricht und so wenig hält.
       Rachels letztes Lied ist ein einsames. Kollegen und Weggefährten haben dem
       Theater den Rücken gekehrt und sich der Revolution angeschlossen, die auf
       Havannas Straßen tobt. Rachels Heimat aber bleibt die Musik.
       
       Revolution oder Theater – der [1][deutsche Komponist Hans Werner Henze] sah
       darin keinen Widerspruch. Anlässlich seines 10. Todestages führt die
       Werkstattbühne der Berliner Staatsoper erstmals die Kammeroper „La Piccola
       Cubana“ auf. Ursprünglich hatten Henze und sein Librettist Hans Magnus
       Enzensberger das Stück 1974 als aufwändige Fernsehproduktion angelegt.
       Henzes ehemaliger Assistent, Jobst Liebrecht, verschlankte die „Cubana“
       2022 zu einer kammermusikalischen Kurzfassung.
       
       Die Handlung erinnert an politische Singspiele à la Brecht/ Weill. Inmitten
       sozialer Unruhen und wechselnder Militärdiktaturen träumt eine junge Frau
       vom Scheinwerferlicht. Doch weil im Kapitalismus keiner was werden kann,
       ohne sich zu verkaufen, führt der Weg zur Bühne direkt ins Rotlichtmilieu.
       Unablässig wehrt sich Rachel gegen die Begehrlichkeiten lüsterner Mäzene.
       Sie will frei sein, widersetzt sich auch dem politischen Werben der
       Revolutionäre.
       
       ## Linkspolitischer Sehnsuchtsort
       
       Anders als die Titelheldin stand das prominente Duo Henze/Enzensberger voll
       hinter dem Sozialismus. In seinem Theaterstück „Das Verhör von Habana“
       hatte Enzensberger die Insel bereits 1972 zum linkspolitischen
       Sehnsuchtsort erkoren. Henze hatte währenddessen den Marxisten Rudi
       Dutschke in seiner italienischen Villa zu Gast und sorgte im konservativen
       Lager für Naserümpfen, als er Guerillaführer Che Guevara ein Musikstück
       widmete. Gleichzeitig äußerte er wiederholt Kritik an den autoritären
       Auswüchsen des Castro-Regimes.
       
       In „La piccola cubana“ spiegelt sich diese Zerrissenheit in den beiden
       Erzählerinnen, die sich in Brechtscher Manier kommentierend ans Publikum
       wenden. Die eine zieht die Glitzerwelt des Variétés dem schmutzigen
       Geschäft der Politik vor. Die andere brennt für die revolutionäre Sache.
       Wer Recht hat, darf das Publikum entscheiden.
       
       Diese existentiellen Fragen konterkariert die Musik mit launigen, teils
       jazzigen Klängen inklusive Gitarre und Saxophon. Eine Collage aus
       verfremdeten Formen von Foxtrott, Tango oder Ragtime macht den rasenden
       Puls des kubanischen Nachtlebens hörbar. Trotzdem kein Ohrwurm – so weit
       wollte sich Bildungsbürger Henze nicht auf die U-Musik einlassen.
       
       Überholungsbedürftig ist das Frauenbild der Vorlage, denn natürlich ist die
       Figur der Rachel eine Männerfantasie. Sopranistin Victoria Randem, die auch
       noch verblüffend gut tanzt, betört mal im rosa Tutu, mal in roter Corsage,
       mal im androgynem Herrenanzug.
       
       Regisseurin Pauline Beaulieu bricht den Voyeurismus, indem sie den
       Darstellerinnen Texte der [2][feministischen Autorin Virginie Despentes] in
       den Mund legt. „Mein Geschlecht gehört mir und verliert auch durch
       intensive Nutzung nicht an Wert“, erklärt Sex-Workerin Lucile (Ema
       Nikolovska) und macht aus dem Opfer-Narrativ einer Prostituierten eine
       Erzählung über female Empowerment.
       
       Der besondere Charme des Abends liegt im Aufführungsort. Nicht viel größer
       als ein geräumiges Wohnzimmer, bietet die Veranstaltungsreihe LINDEN 21 im
       alten Orchesterprobensaal Raum für experimentelle Formate in intimer
       Atmosphäre. Hier kann man Sängern und Instrumentalisten beim Atmen und
       Schwitzen zusehen und Musik so hautnah erleben, wie es auf der großen Bühne
       selten möglich ist.
       
       31 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
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