URI: 
       # taz.de -- Lyrik-Performance in Hannover: Krasse Sprachbilder in Watte
       
       > Yahya Hassan war die wütend-poetische Stimme des dänischen Ghettos.
       > Seinen ersten Gedichtband hat Murat Dikenci in Hannover auf die Bühne
       > gebracht.
       
   IMG Bild: Die Performer Edi Kastrati und Bi Vro Alain Serge Irie umarmen einander zu Hassans Versen
       
       Also doch nur Patschuli und keine Pisse in der Cumberlandschen Galerie.
       Dabei wäre Pisse der richtige Geruch gewesen. Denn die ist im ersten Buch
       des dänischen Dichters Yahya Hassan das vorherrschende Parfum.
       
       Schon aus dem zweiten Vers schlägt ja das Ammoniak-Aroma von „EN PØL AF
       PIS“ entgegen, einer Urin-Pfütze also, Zeichen der Angst vor dem
       Prügelvater. In einem Gedicht wird aufs eigene Grab gepinkelt, und [1][im
       letzten, dem berühmtesten], pisst das lyrische Ich „FAST IN DIE HOSE VOR
       WONNE“ und, möglicherweise aus demselben Grund, im parallelgeschalteten
       Folgevers „AUF ALLAH UND ALL SEINE GESANDTEN“.
       
       Seine unbändige Härte, seine Häresie auch, hatten den Band „Yahya Hassan“
       2013 und im Jahr darauf in allen Sprachen, in die er übertragen wurde, zu
       einer literarischen Sensation gemacht. Der Autor, staatenloses Kind
       palästinensischer Flüchtlinge in Dänemark, schreit darin, [2][so will es
       die Überlieferung], die Schrecken der Kindheit im Ghetto Aarhus Frydenlund,
       schreit auch intensivste Bruderliebe sowie unbändigen Hass auf die Eltern
       solange mit Feststelltaste in die Welt, bis daraus Schönheit wird.
       
       Und er spart auch nicht mit dem Hass auf „DAS LAND DAS EURES WAR / UND DAS
       LAND DAS UNSERES WURDE / DAS LAND DAS NIE EURES WIRD / UND DAS LAND DAS NIE
       UNSERES WIRD“. Zwei Jahre [3][nach Hassans Tod] – er war gerade mal 24,
       über die Ursache wird seit Auffinden der Leiche herumgedruckst – ist nun
       erstmals überhaupt eine Bühnen-Adaption zu erleben, auf der Off-Bühne des
       Staatsschauspiels Hannover eben.
       
       ## Pokémonkarten und Matratzen
       
       Das ist ein besonderes Wagnis bei Lyrik, die doch, wie narrativ sie auch
       sein mag, stets auch der linearen Ordnung von Erzählung und Argumentation
       trotzt. Regisseur und Universen-Intendant Murat Dikenci hat eine Art
       Assemblage zusammengestellt aus Texten, aus Videos, und aus Requisiten, an
       verschiedenen Punkten des Raums gruppiert und von den Gedichten in Szene
       gesetzt: Pokémonkarten, weiße Plastikstühle, „DIE MATRATZE NACH UNTEN
       GEBEULT“.
       
       Schon am Eingang sind, wie beim Moscheebesuch, die Schuhe gegen
       Gästelatschen einzutauschen: Die Performance will das Publikum kopfüber
       eintauchen in die Welt dieses Gedichtbandes. Sehr schön wirbeln der Tänzer
       Bi Vro Alain Serge Irie und der Performer Edi Kastrati als rangelndes
       Brüderpaar durch die Zuschauer*innen, die im schwarzen Raum stehen, nehmen
       sie zwischen knallend ausgeschlagenen Bettlaken gefangen. Räucherstäbchen
       duften. Und das ist ja, was Lyrik tun muss: immersiv werden, die Menschen
       einspinnen, [4][sie in das Ich des Textes verwandeln].
       
       Aber vor den unangenehmen Erfahrungen, vor dem Schmerz, dem Ekel, dem
       Gestank die das bei dieser Poesie bedeuten müsste, schreckt Dikinci dann
       doch merkwürdig zurück. Klar, man ist nicht undankbar dafür.
       
       An vielen Stellen scheint ein bisschen Watte drumzupacken sinnvoll, weil
       damit Diskursreflexe – hat er etwa mit abfälligem Unterton „Zionist“
       gesagt? – vermieden werden, die an der Dichtung Hassans vorbeigehen würden.
       Auch verdecken die Schocks, mit denen sie arbeitet, allzu leicht ihre
       Befähigung zur Zärtlichkeit. Es bleibt aber doch unbefriedigend: weil sie
       ihre Schönheit und ihre Bedeutung bezieht aus dem Nebeneinander und der
       absoluten Gleichwertigkeit dieser milden Momente und jener schneidenden
       Schärfe.
       
       Deren Kontrast hatte Hassan zu Lebzeiten nicht nur typologisch durch die
       konsequente Großschreibung verdeckt, sondern auch performativ durch einen
       sehr speziellen, litaneiartigen Rezitierstil, der die Behauptung, hier
       würde geschrieen, konterkariert: [5][Schwer erträglich monoton, aber gerade
       dadurch faszinierend,] wirkt er wie das genau kalkulierte Gegenteil der
       handelsüblichen Emphase von Spoken Words Poetry.
       
       Deren Urheber*innen merkt man immer an, dass sie sich freuen wie Bolle,
       wenn sie mal eine unkonventionelle Metapher gefunden haben. Hassan, ganz im
       Gegenteil, prägt [6][seine krassen Sprachbilder] ganz beiläufig, diskret,
       irgendwo in den Schmutzwinkeln noch seiner skatologischsten Verse. Auch
       beim skeptischen Wiederlesen erweist sich das als großartige Literatur.
       Dringend erwünscht wäre eine deutsche Übersetzung des [7][nicht minder
       genialen Bandes] „Yahya Hassan 2“, absolut notwendig zudem eine Neuauflage
       des längst vergriffenen Erstlings.
       
       Nichts dergleichen ist geplant. Ullstein hat sogar den lange vergriffenen
       Debüt-Band aus der Preisbindung genommen, heißt: Der wird auch nicht mehr
       nachgedruckt. Die Gründe bleiben ungenannt. Die Rechte am Nachlass liegen
       bei den Eltern; angeblich [8][misstrauen sie Deutschland, weil sie es für
       viel zu judenfreundlich halten]. Und es mag auch sein, dass sie sich nicht
       unbedingt gut getroffen fühlen, in den Porträts, die die Gedichte ihres
       misshandelten Sohns von ihnen entwerfen. Dürfen sie ihn zum Schweigen
       bringen?
       
       Auch Dikenci hatte sich [9][lange um die Aufführungserlaubnis mühen
       müssen]. Für die Performance hat er nun den „4 Blocks“-Star Hassan Akouch
       zehn Gedichte einlesen lassen, plus eine ärgerlich verstümmelte
       Schrumpfform des furiosen Langgedichts, mit dem „Yahya Hassan“ endet.
       
       ## Ein Boxsack in Spitze
       
       Mit ihnen hat er einen chronologischen Parcours durchs Leben eines
       lyrischen Ichs gebildet, das zu dessen Ärger hartnäckig mit dem realen des
       Autors gleichgesetzt worden ist. Der Lyrik nun nur als Stimme aus dem Off
       Präsenz zu verleihen, ist kein schlechter Ansatz: Es verstört [10][blöde]
       identifikatorische Lesarten.
       
       Immer wenn nun die Tonbandrezitation allein bleibt mit an die linke und
       rechte Wand projizierten Videos, kippt die Inszenierung jedoch ins
       Peinlich-Seichte: David Uzochukwus Aufnahmen düsterer ruraler Szenen wirken
       wie verfilmte Stock-Fotos zum Themenfeld „besinnlich“.
       
       Sie stellen keinen Kontakt zu dieser Dichtung aus der urbanen
       Verwerfungszone her, eher begraben sie den Text unter Schwulst. Ihn zu
       feiern, ihm unerschlossene Dimensionen abzugewinnen: Das gelingt hingegen,
       wo Akouch die Lyrik nicht bloß artig vorliest – und Bi Vro Alain Serge
       Irie und Edi Kastrati sie in einleuchtende szenische Aktionen übersetzen,
       die nicht behaupten, irgendetwas zu illustrieren.
       
       Zum berührenden Höhepunkt des Abends werden so die dunkel-paradoxalen Verse
       „VATER MEIN UNGEBORENER SOHN“: Während der Rezitator sie auf ihre innere
       Musik befragt, durch Wiederholungen, Stimmverdopplungen, Segmentierungen
       ihre Rhythmik analysiert und so den surrealen Visionen dieses knappen
       Fünfzeilers Raum gibt und Nachhall, wiegen sich die zwei Performer in einer
       Umarmung über einen von Kostümbildnerin Marilena Büld in schwarze
       Kunstfaser-Spitze gehüllten Boxsack hinweg: ein simples Bild, so brutal wie
       zärtlich. Ein Bild, in dem es keinen Grenze gibt zwischen Gewalt und wahrer
       Liebe.
       
       3 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=87SHkbA6wKI
   DIR [2] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/zum-tod-des-daenischen-lyrikers-yahya-hassan-16749502.html
   DIR [3] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/zum-tod-des-daenischen-lyrikers-yahya-hassan-16749502.html
   DIR [4] https://www.jstor.org/stable/43028063#metadata_info_tab_contents
   DIR [5] https://www.youtube.com/watch?v=4M0G8XtFQHA
   DIR [6] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/nach-dem-tod-des-daenisch-palaestinensischen-dichters-yahya-hassan-16773196.html
   DIR [7] https://www.norden.org/en/nominerede/yahya-hassan
   DIR [8] https://www.hoerspielundfeature.de/ueber-den-daenisch-palaestinensischen-dichter-yahya-hassan-100.html
   DIR [9] https://www.youtube.com/watch?v=SjPN7iZHtfM
   DIR [10] /Yahya-Hassan-ueber-Gewalt/!5044954
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
       ## TAGS
       
   DIR Lyrik
   DIR Dänemark
   DIR Schauspiel Hannover
   DIR Theater
   DIR Poesie
   DIR Poesie
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR „Universen“ im Schauspielhaus Hannover: „Holt euch die Steuergelder zurück“
       
       Playstation-Turniere und Solidaritätskonzerte: Theatermacher Murat Dikenci
       lockt ein sonst eher theaterfernes Publikum ins Schauspielhaus Hannover.
       
   DIR Zum Tod des Dichters Yahya Hassan: Abschied vom Rüpel-Reimer
       
       Der umstrittene dänisch-palästinensische Poet Yahya Hassan ist in Aarhus
       beerdigt worden. Zum Friedhof kamen trotz Coronavirus 400 Menschen.
       
   DIR Yahya Hassan über Gewalt: „Ich weiß nicht, was Glück ist“
       
       Seine Gedichte sind Zeugnisse einer kriminellen Jugend in Dänemark. Yahya
       Hassan ist 18 und selten gut gelaunt. Auch nicht bei diesem Gespräch.