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       # taz.de -- Russische Staatspropaganda: Putins schöne weite Welt
       
       > Das Konzept der „Russischen Welt“ ist nicht klar definiert. Jetzt kämpft
       > Russland unter diesem Banner in der Ukraine auch gegen Satanismus.
       
   IMG Bild: „Russische Welt“ – unter diesem Banner kämpfen Russen für Orthodoxie und russische Sprache – im Zweifel wie hier in Kupjansk auch gegen die ukrainisch-orthodoxe Kirche
       
       Feindin! Wenn Du gegen die Russische Welt bist, dann hau doch ab zu den
       Sorosjaten!“ (Sorosjaten sind Anhänger und Mitarbeiter von Organisationen,
       die von den Stiftungen des US-Milliardärs George Soros finanziert werden).
       Diese Nachricht erhielt ich unlängst von einem unbekannten Abonnenten.
       
       Das Ganze war unerwartet und hätte vielleicht noch als Irrläufer durchgehen
       können, wäre über mich an diesem Tag in den sozialen Netzwerken nicht eine
       wahre Flut an Beleidigungen von mir unbekannten Leute hereingebrochen. Erst
       am Abend wurde mir klar, was los war. Medien hatten Nachrichten über eine
       Lehrerin veröffentlicht, die angeblich die russische Armee diskreditiert
       haben soll. Sie hatte ihren Schülern gesagt, dass es besser sei, ins
       Gefängnis zu gehen, als in der Ukraine zu kämpfen. Und diese Lehrerin
       entpuppte sich als meine Namensvetterin.
       
       Anscheinend gibt es in Russland viele Verteidiger der sogenannten
       „Russischen Welt“, die bereit sind, in den sozialen Netzwerken für sie zu
       kämpfen. Gleichzeitig können nur wenige Menschen wirklich erklären, woraus
       genau dieses Konzept besteht. Darüber hinaus gibt es auch auf offizieller
       Ebene noch keine klare Definition und die Bedeutung dieses Begriffs ändert
       sich ständig.
       
       Die Situation erinnert an einen alten Witz. Ein Mann kommt betrunken nach
       Hause. Auf die Frage seiner Frau, wo er gewesen sei, antwortet er: „Schatz,
       du bist klug, lass dir selbst etwas einfallen.“ Genau das tun die
       Propagandisten.
       
       Die Idee von der „Russischen Welt“ wurde am aktivsten vom ehemaligen
       Präsidentenberater Wladislaw Surkow in den 2000er Jahren in Umlauf
       gebracht, doch bereits damals war die Definition sehr unscharf. „Die
       Russische Welt ist dort, wo Menschen Russisch sprechen, die russische
       Kultur hochhalten, wo sie unseren Wladimir Putin wertschätzen.“ Nach der
       Annexion der Krim 2014 wurde die Russische Welt zunächst als Sprachraum
       bezeichnet.
       
       Dieser Logik zufolge muss Russland alle ausländischen Territorien
       kontrollieren und (was noch wichtiger ist) schützen, wo die russische
       Sprache in Gefahr ist. Die Ereignisse auf dem Maidan in der Ukraine 2014,
       die russische Medien als antirussischen Staatsstreich darstellten, passten
       perfekt in dieses Setting. Daher wurde „die Rückkehr der Krim in ihren
       Heimathafen“ (das war praktisch die offizielle Erzählung) aus diesem
       Blickwinkel betrachtet: wir haben die Krim annektiert und die russische
       Sprache gerettet.
       
       Dann wurde es schon schwieriger. Zusammen mit dem Beginn des Krieges im
       Osten der Ukraine mutierte die „Russische Welt“ zu einer Beschützerin der
       russischsprachigen Bevölkerung vor den Nazisten. Als Anschauungsmaterial
       verwendete die russische Propaganda [1][die Symbolik des Asow-Regiments],
       die hartnäckig als SS-Emblem identifiziert wurde.
       
       Seit dem 24. Februar 2022 hat die „Russische Welt“ eine weitere neue
       Bedeutung erhalten: [2][Jetzt beharrt das russische Fernsehen darauf], dass
       die Russen unter diesem Banner gegen den vereinten Westen für traditionelle
       Werte kämpfen. Das heißt Familie und Orthodoxie bei gleichzeitiger
       Ablehnung von Homosexualität. Anscheinend ist das alles, was Russland der
       Welt bisher zu bieten hat.
       
       Zwar kämpfen in der Ukraine auf russischer Seite neben Orthodoxen auch
       Muslime und Buddhisten, aber bisher wird dieser Widerspruch ausgeblendet.
       Zumindest hat die russisch-orthodoxe Kirche kein Problem damit, dass alle
       Nationalitäten und Konfessionen für orthodoxe Werte kämpfen sollen.
       
       Wladimir Putin hat diese Ideologie bekräftigt und erklärt, dass es in
       Russland, anders als in Europa, niemals zwei „gleichgeschlechtliche
       Elternteile“ anstelle von Mama und Papa geben werde.
       
       Die Propagandisten haben diese Worte aufgegriffen, und es stellte sich
       sofort heraus, dass Russland in der Ukraine gegen die Dominanz von
       Homosexualität kämpft. Und jetzt wird einem jeder zweite Taxifahrer
       erklären, dass das wichtigste Ziel des Westens darin besteht, die
       [3][Russen zu einer soliden LGBTQ-Community zu machen]. Einige gingen sogar
       noch weiter. Im orthodoxen Sender Spas sagte der Moderator, dass die
       Hauptaufgabe Russlands in der Ukraine der Sieg über den Satanismus sei.
       
       Aber es gibt auch viele Menschen in Russland, die die „Russische Welt“ für
       eine Bombe halten, die nicht im Westen oder der Ukraine, sondern in
       Russland deponiert ist. Da jedoch jeder Kommentar oder Post gegen den Krieg
       zu einer Geld- oder Gefängnisstrafe führen kann, sind diese Stimmen im
       öffentlichen Raum kaum zu hören.
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel
       
       14 Nov 2022
       
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