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       # taz.de -- Als Russin im Exil: Ohnmacht, Schuld und Widerstand
       
       > Liza* arbeitet für das oppositionelle Magazin Doxa. Sie ist eine von über
       > 113.000 Russinnen und Russen, die 2022 nach Georgien ausgewandert sind.
       
   IMG Bild: Die russische oppositionelle Journalistin Liza*
       
       Tbilissi taz | Anfang November sitzt Liza* in einem Café in Tbilissi, ihr
       Blick wandert immer wieder zur Kura, dem Fluss, der sich schlängelnd durch
       Georgiens Hauptstadt zieht. Seine grüngraue Farbe beruhige sie, sagt sie.
       Fast neun Monate nach Kriegsausbruch seien ihre Ohnmacht und das
       Schuldempfinden etwas gewichen. Als sie am Morgen des 24. Februar in den
       Nachrichten las, dass ihr Heimatland Raketen auf Städte warf, in denen ihre
       Freunde lebten, sei sie wie gelähmt gewesen.
       
       „Mir erschien [1][das russische politische System] wie ein Ehemann, der
       seine Kinder schlägt“, sagt die 28-jährige Journalistin aus St. Petersburg,
       die an einer linksliberalen, privaten Universität in St. Petersburg in
       Gender Studies promoviert. „Und diejenigen, die versuchen, dagegen etwas zu
       tun, sind seine Ehefrau, die ihn nicht daran hindern kann. Du kannst nichts
       dagegen tun, dass man dein Kind tötet.“
       
       Seit März lebt Liza in Tbilissi. Sie ist damit eine von über 113.000
       Russinnen und Russen, die seit Jahresanfang dauerhaft in das südkaukasische
       Land gezogen sind. Viele verließen das Land erst [2][nach der russischen
       Mobilmachung Ende September] – und nicht alle kamen, weil sie Putins
       Politik ablehnten. Liza lehnt diese schon seit ihrer Schulzeit ab, erzählt
       sie. Seit 2011 nahm sie an Demonstrationen teil, verhaftet wurde sie aber
       nie. Es sei in den vergangenen Jahren aber auch kein großes Ding gewesen,
       in Haft zu geraten: „Dann sitzt du halt zwei Wochen, und fertig.“
       
       Doch der repressive Apparat in Russland wurde in Lizas Wahrnehmung immer
       mächtiger. Der Kreml habe die Geheimdienste und das Militär besser darauf
       dressiert, Protestierende auseinanderzutreiben und ihnen zu drohen. Sie so
       zu schlagen, dass keine blauen Flecken zu sehen sind. Bereits im August
       2021 wird das oppositionelle Studierendenmagazin Doxa zur „unerwünschten
       Organisation“ erklärt und wie viele andere unabhängige Medien von den
       russischen Behörden im Februar 2022 gesperrt. Doxa, das 2017 als
       studentische Zeitung an der Moskauer Higher School of Economics gegründet
       wurde, [3][steht schon in den Jahren zuvor immer wieder unter politischem
       Druck].
       
       ## Auf den Schultern der Frauen
       
       In den ersten Tagen des russischen Angriffskriegs nimmt Liza, die als
       Redakteurin für Doxa arbeitet, jeden Tag an Antikriegsdemonstrationen
       teil. Es bildete sich schnell eine feministische Antikriegsbewegung. Es
       wird klar, dass politischer Aktivismus sich auf die Schultern der Frauen
       legt. Weil Männer sich in einer schwachen Position befinden. [4][Für Männer
       ist es wirklich gefährlich]. Sie können eingezogen werden.
       
       Und was ist mit den anderen, warum werden sie nicht aktiv? „Niemand in
       Russland möchte ein Menschenfresser sein. Niemand möchte Zuschauer und
       Mittäter sein von Massenmorden an der Zivilbevölkerung, den Morden an
       Kindern. Wenn du aber wider Willen Teil des Systems bist, das umbringt,
       hast du die Entscheidung: Du kannst dich für den schmerzhaften Weg
       entscheiden und aus dem System aussteigen, oder du isst weiterhin deinen
       Buchweizen. Gut, vielleicht verdienst du etwas weniger, vielleicht kannst
       du nicht mehr alle Webseiten besuchen. Aber nichts Gravierendes verändert
       sich. Du schneidest einfach einen Teil der Realität ab.“
       
       ## Junge Journalisten im Hausarrest
       
       Als immer mehr Aktivisten und Journalisten in ihrem Umfeld verhaftet
       werden, folgt sie Freunden nach Georgien. Dass Liza für Doxa arbeitet,
       hätte als Grund ausgereicht, um sie zu verhaften. Vier Doxa-Redakteure,
       darunter der Mitgründer und Chefredakteur Armen Aramjan, befanden sich zu
       diesem Zeitpunkt bereits seit elf Monaten unter Hausarrest. Sie hätten
       Jugendliche mit einem Video zu gesetzeswidrigen Handlungen angestiftet, so
       lautete der Vorwurf. Nachdem [5][der Oppositionelle Alexei Nawalny im
       Januar 2021 verhaftet worden war], zeigten die vier Gründer in einem Video,
       dass es illegal sei, Studierende wegen ihrer Teilnahme an Protesten gegen
       Nawalnys Inhaftierung vom Studium auszuschließen.
       
       Im häuslichen Arrest durften die jungen Journalisten Internet und Telefon
       nicht benutzen. Eine elektronische Fessel stellte sicher, dass sie sich
       anfangs nur eine Minute außerhalb der Wohnung aufhielten. Später sagte man
       ihnen zwei Stunden täglich zu. „Das war alles völlig absurd“, erinnert sich
       Liza. Mit Hilfe externer Festplatten arbeiteten die Journalisten trotzdem
       weiter. Als im Frühjahr 2022 das Gerichtsurteil fiel und sie zu zwei
       Jahren gemeinnütziger Arbeit verurteilt wurden, flohen sie nach
       Deutschland.
       
       ## Sicherheit sehr wichtig
       
       Liza glaubt, dass es der russischen Führung recht ist, dass Menschen wie
       ihre Freunde das Land verlassen haben. Jede Woche sieht sie die vier nun
       beim Online-Redaktionsmeeting. Neben Liza arbeiten weitere Redakteure des
       etwa zwanzigköpfigen Teams aus dem Exil in Georgien oder dem Nachbarland
       Armenien. Politisch seien sie und ihre Kollegen bei Doxa auf derselben
       Seite, sagt Liza. Um das sicherzustellen, hat die Redaktion ein Prozedere
       entwickelt: Neu aufgenommen wird nur jemand, der von mindestens einer
       Person aus dem Team empfohlen wurde.
       
       Sicherheit spielt für das Onlinemedium eine große Rolle. Von manchen
       Kollegen kennt Liza nicht einmal ihren Klarnamen. Liza schätzt bei Doxa das
       geschützte Arbeitsumfeld und die gleichzeitig offene Kommunikation. Es gebe
       keine Hierarchien und alles sei transparent – auch die Verteilung der
       finanziellen Mittel, die das Magazin durch Crowdfunding erhält.
       
       ## Telegram und Instagram wichtig
       
       Als oppositionelle Journalistin fühlt sich Liza in Georgien sicher. Die
       allgegenwärtige Angst vor dem Regime könne man aber vor Ort in Russland
       viel besser verstehen, sagt sie. Die dort Gebliebenen sind die wichtigste
       Zielgruppe von Doxa. Über einen VPN-Zugang können Menschen in Russland die
       Blockierung der Webseite umgehen und ungefilterte Nachrichten über
       politische Proteste, Universitätspolitik in Russland oder [6][Rechte der
       LGBTQ-Community] lesen. Die wichtigsten Kanäle bleiben aber Telegram und
       Instagram. Auch wenn Instagram in Russland ebenfalls nur über VPN zu öffnen
       ist. Aufgrund der intensiven Berichterstattung in den ersten Monaten des
       Krieges hat das Onlinemagazin Doxa seitdem auch in anderen Ländern Leser.
       
       Auf Telegram bietet Doxa eine Hotline an und ist damit mehr als nur ein
       Nachrichtenmagazin. Dort können sich Menschen melden, die Hilfe brauchen.
       Die Hotline zu betreuen gehört ebenfalls zu den Aufgaben der Redakteure,
       bringt Liza aber oft an ihre Grenzen. Häufig fühle sie sich machtlos: „Es
       ist schwierig, sich mit all dem auseinanderzusetzen. Zu sehen, dass
       Studenten in Donezk monatelang nicht aus ihren Wohnungen können. Weil sie
       sonst in die Armee geraten und sterben“, sagt sie.
       
       ## Kein Austausch mit Ukrainern
       
       Belastend waren auch die ersten Wochen nach dem Angriff Russlands auf die
       Ukraine: Sie arbeitete in dieser Zeit täglich für Doxa. Die Ereignisse
       überschlugen sich. „Es war unmöglich, nicht darüber zu schreiben. Wir
       arbeiteten Tag und Nacht und wechselten uns ständig ab“, sagt sie. Ihren
       Einsatz hat Liza mittlerweile reduziert. Sie unterrichtet nun zusätzlich an
       einer russischsprachigen Schule in Tbilissi Geologie, das Fach ihres
       Erststudiums. Seit März hat sich die Schülerzahl dort verdreifacht, auch
       ukrainische Kinder sind darunter. Viele Ukrainer seien mittlerweile aber
       nach Westeuropa oder Bali weitergezogen, wo es günstiger sein soll, eine
       Wohnung zu mieten, als in Georgien. Zumindest in Tbilissi und Batumi am
       Schwarzen Meer haben sich die Preise seit März verdreifacht.
       
       Liza hat das Gefühl, dass sich die russische und ukrainische Community aus
       dem Weg gehen. Auch zwischen ukrainischen und russischen Journalisten ist
       ihr in Tbilissi kein Austausch bekannt. Sie selbst möchte niemanden aus der
       Ukraine retraumatisieren: „Vielleicht hat sich das mittlerweile geändert,
       aber zu Beginn war es absolut klar, dass es völlig sinnlos ist, sich bei
       Leuten, die gerade vor Bomben geflüchtet waren, zu entschuldigen.“ Sie
       fühlte damals eine starke Schuld. Erst einige Zeit nach Kriegsausbruch
       traute sie sich, ihren ukrainischen Freunden zu schreiben. Zu groß war ihre
       Angst, sie könnten Liza hassen – doch sie taten es nicht.
       
       Putins Regime habe ihren ukrainischen Freunden eine Perspektive auf die
       Zukunft genommen, aber auch Liza blickt mit vielen Fragezeichen nach vorn:
       „Bei all meinen Privilegien, meiner hohen Bildung und Freundschaften ins
       Ausland weiß ich trotzdem nicht, wo man mich gebrauchen kann. Ob ich je die
       Möglichkeit haben werde, eine Familie zu gründen.“ Um das Gefühl der
       Entwurzelung ein wenig zu dämpfen, hat Liza kürzlich einen obdachlosen Hund
       bei sich aufgenommen. So können sie nun zusammen ohne Heimat sein, sagt sie
       scherzhaft. Sie müsse jetzt auch los, er warte schon auf sie.
       
       *Name ist der Redaktion bekannt
       
       10 Nov 2022
       
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