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       # taz.de -- Bürgermeisterwahl in Tübingen: Palmer bleibt
       
       > Boris Palmer sichert sich die absolute Mehrheit bei der Wahl in Tübingen.
       > Er kündigt an, dass er sich wieder für die Grünen einsetzen will.
       
   IMG Bild: Applaus, Applaus:Palmer nach seinem Sieg am Wahlabend
       
       Karlsruhe taz | Am Sonntagabend nach seinem [1][unerhörten Wahlsieg] sieht
       man einen entspannten Boris Palmer, der seelig lächelnd die örtliche
       Blasmusik und am Ende auch das umstehende Publikum dirigiert.
       
       Ganz Tübingen hört auf sein Kommando, das gefällt Boris Palmer natürlich.
       Und klar, seinen Grünen hat er ordentlich den Marsch geblasen. Wollten sie
       ihn doch mit dieser Wahl endgültig aufs Abstellgleis stellen. Erst das
       [2][Parteiausschlussverfahren], dann die Urwahl, zu der ihn die Tübinger
       Parteifreunde als Amtsinhaber zwingen wollten. Palmer trat als unabhängiger
       Kandidat an, [3][gegen die Grünen] und ihre Kandidatin Ulrike Baumgärtner
       holte er 52,4 Prozent im ersten Wahlgang. Baumgärtner erreichte für die
       Grünen nur 22 Prozent. Die SPD-Kandidatin Sofie Geisel blieb bei 21,4
       Prozent.
       
       Beide gratulieren schon vor dem Ende der Auszählung dem Amtsinhaber. Das
       Projekt der beiden Frauen, Palmer in den zweiten Wahlgang zu zwingen und
       ihn dann vereint, also mit der aussichtsreicheren Kandidatin, aus dem Amt
       zu fegen, ist gescheitert. „Tübingen ist eng verwurzelt mit Boris Palmer,
       da kommen zwei Frauen nicht gegen an“, erkennt Sofie Geisel am Wahlabend
       an.
       
       ## Palmer ohne Politik ist schwer vorstellbar
       
       Der ausgelassene Wahlsieger Palmer muss aber auch ganz schön erleichtert
       sein. Er selbst hatte angekündigt, was ohnehin auf der Hand lag: Wenn er
       verliert, ist es vorbei mit dem Politiker Palmer. Dann würde er sich eben
       mit seiner Bürgermeisterpension künftig um seine Kinder kümmern. Das klang
       cooler, als es gemeint sein konnte. Denn Palmer ohne Politik ist noch
       weniger vorstellbar als Tübingen ohne Palmer.
       
       Jetzt hat er das Spiel mit hohem Einsatz gewonnen und steht im Zenit seiner
       politischen Karriere. Palmer, der Einser-Abiturient, studierte
       Mathematiklehrer mit immerhin einem Staatsexamen. Dann Landtagsabgeordneter
       und enger Weggefährte von Winfried Kretschmann. Eine Karriere im Turbo, bei
       der er auf wenige trifft, denen er zugestehen würde, ihm das Wasser reichen
       zu können.
       
       Einmal scheiterte er als grüner OB-Kandidat in Stuttgart, gewann dann aber
       2007 im ersten Wahlgang in Tübingen. Bundesweit wird er bekannt, als er bei
       den Schlichtungsgesprächen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 mit
       detaillierter Faktenkenntnis die Vertreter der Bahn ins Schwitzen bringt.
       Auch da ist Palmer Palmer. Hart in der Argumentation, schnell denkend und
       ungehobelt – irgendwie ein Nerd. Später dann mit seinen Äußerungen über
       Flüchtlinge und Coronapatienten bei Facebook und im Fernsehen, steigert
       Palmer seinen Populismusfaktor – für die Grünen [4][weit über die
       Schmerzgrenze] hinaus.
       
       Inzwischen sagt Palmer selbst, dass das auch genetisch bedingt sein könnte.
       Er ist der Sohn des „Remstalrebellen“ Helmut Palmer, eines schwäbischen
       Originals, eigentlich Obstbauer, der in der Nachkriegszeit mit derber
       Polemik Willkür und Naziseilschaften in Staat und Bürokratie anprangerte
       und dabei auch öfter übers Ziel hinausschoss. Helmut Palmer ist selbst bei
       über 250 Bürgermeisterwahlen angetreten, ohne je gewählt zu werden. Boris
       Palmer hat also längst mehr erreicht als sein Vater jemals. Ob er, der ja
       gerade erst 50 Jahre alt ist, auch außerhalb Tübingens eine politische
       Zukunft haben könnte, hängt nicht zuletzt davon ab, wie klug er jetzt mit
       diesem Erfolg umgeht.
       
       ## Kann der Sieg wieder Brücken zu den Grünen bauen?
       
       Palmer müsse seine Stadt nach dem polarisierenden Wahlkampf wieder
       zusammenführen, findet die grüne Gegenkandidatin Ulrike Baumgärtner. Palmer
       selbst sagt am Wahlabend, es sei ihm bewusst, dass er von über 40 Prozent
       der Wähler nicht gewählt worden sei. Er betont die Einigkeit der Tübinger
       in vielen Fragen, nicht zuletzt dem Klimaschutz. Dann sucht er den
       Schulterschluss zu den Grünen und rechnet sein Ergebnis und das von Ulrike
       Baumgärtner zusammen: „Die grüne Volkspartei hat in Tübingen fast 75
       Prozent der Stimmen erhalten.“ Er wolle sich wieder mehr für die Grünen
       einsetzen. Für manche in der Partei mag das eher eine Drohung sein.
       
       Immerhin steht Palmer noch am Wahlabend mit Winfried Kretschmann und Robert
       Habeck in Kontakt. Auch ein direkter innerparteilicher Gegner, der grüne
       Tübinger Bundestagsabgeordnete Chris Kühn, sagte in Berlin: „Wir müssen das
       Freund-Feind-Denken überwinden und noch in diesem Jahr mit Boris Gespräche
       führen.“
       
       Kann Palmers Sieg Brücken bauen oder bleibt er ganz der Alte? Als er am
       Abend in den Nachrichten des SWR gefragt wird, ob er in seiner dritten
       Amtsperiode seinen Stil ändern werde, da blitzte der bekannte Palmer wieder
       auf. Er wisse nicht, warum ein dreimal mit absoluter Mehrheit gewählter
       Oberbürgermeister seinen Stil ändern sollte, fragte Palmer spitz zurück.
       „Vielleicht sollten Sie lieber den Stil ihrer Fragen ändern.“
       
       24 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Stieber
       
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