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       # taz.de -- Häusliche Gewalt bei Sorgerechtsfragen: Mütter-Protest zeigt Wirkung
       
       > Nachdem Frauen kritisierten, dass häusliche Gewalt bei Familiengerichten
       > kaum beachtet wird, plant Niedersachsens Koalition eine
       > Koordinierungsstelle.
       
   IMG Bild: Protest gegen die Praxis insbesondere der Familiengerichte: Mütter vis-à-vis der Staatskanzlei
       
       Hamburg taz | Klein, aber ungewöhnlich, war der Protest von etwa 20 Müttern
       am 25. Oktober vor der niedersächsischen Staatskanzlei. Die [1][Mutter Anna
       Hansen] und ihre Mitstreiterinnen wollten sich vor Beginn der rot-grünen
       Koalitionsverhandlungen Gehör verschaffen, damit die neue Regierung den
       Gewaltschutz verbessert. Denn ausgerechnet die Familiengerichte
       missachteten diesen.
       
       Und in der Tat steht nun etwas im neuen Koalitionsvertrag, das so gedeutet
       werden kann. Auf Seite 92 heißt es, im Kampf gegen Gewalt an Frauen werde
       Rot-Grün „die Istanbul-Konvention in Niedersachsen konsequent umsetzen.
       Dazu richten wir eine Koordinierungsstelle ein, um Gewaltschutz als
       ressortübergreifende Aufgabe zu verankern.“
       
       Die [2][Istanbul-Konvention] ist ein Übereinkommen des Europarates zur
       Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, das 34 Länder
       unterzeichneten. Dazu gehört auch, dass – wie dort im Artikel 31 geregelt –
       häusliche Gewalt bei Entscheidungen über das Sorge- und Umgangsrecht von
       Eltern mit ihren Kindern berücksichtigt werden.
       
       Doch eben hier soll es hapern. Die Soziologin Christina Mundlos, die früher
       Gleichstellungsbeauftragte der Uni Hannover war, schrieb einen Brief an
       Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), den sie neulich vor der Staatskanzlei
       vorlas. Sie berate inzwischen nur noch freiberuflich Mütter, die nach einer
       Trennung Belästigungen, Übergriffe und Gewalt durch den Vater ihrer Kinder
       erlebten.
       
       Beschwerde bei der Ministerin 
       
       In fast allen Fällen trügen das Jugendamt, das Familiengericht und
       angegliederte Professionen gerade nicht dazu bei, den Gewaltschutz zu
       gewährleisten. Manchmal wollten Kinder, nachdem sie durch den Vater Gewalt
       erlebt hätten, diesen erst mal nicht sehen. „Sie wehren sich mit Händen und
       Füßen gegen Treffen“, sagt Mundlos. Doch Richter und Jugendämter seien
       „blind“ für diesen Schutzinstinkt. „Sie beschließen, dass ein Vater auf
       jeden Fall ein Recht auf sein Kind habe.“
       
       Die Rednerin zitierte Beispiele aus Niedersachsen. Da sage eine
       Verfahrensbeiständin aus Hannover zu einem von seinem Vater misshandelten
       Mädchen: „Es geht jetzt hier nicht um dich, es geht um deinen Vater.“ Dabei
       sei es deren Aufgabe, den Kindeswillen zu ergründen. Und vor dem
       Amtsgericht Hannover habe eine Jugendamtsmitarbeiterin gesagt: „Der Vater
       hat zugegeben, dass er das Kind geschlagen und gebissen hat. Aber das
       geschah letztlich aus rein pädagogischen Gründen.“
       
       Den Müttern, sagt Mundlos, werde unterstellt, sie hätten das Kind
       manipuliert und ihm suggeriert, das es den Vater nicht sehen wolle. Deshalb
       werde ihnen das Kind entrissen und beim Vater untergebracht. Basis ist die
       Theorie des „Parental Alienation Syndrome“ (PAS), auf Deutsch
       „Entfremdungssyndroms“, des Amerikaners Richard Gardner, die
       wissenschaftlich als nicht haltbar gilt.
       
       Die frühere Gleichstellungsbeauftragte sagt, dass sich diese Art der
       Rechtsprechung leider in Niedersachsen häufe. Sie sprach bereits im August
       die damals amtierende Justizministerin Barbara Havliza (CDU) darauf an.
       Diese habe die Kritik schließlich als Dienstaufsichtsbeschwerde an das
       Oberlandesgericht (OLG) Celle weitergeleitet. Mundlos sagt, dort sei ein
       Richter bekannt dafür, Müttern das Sorgerecht zu entziehen, wenn sie von
       Gewalt durch den Vater sprechen.
       
       Ein Richter des am OLG-Celle für Familiensachen zuständigen „10.
       Zivilsenats“ wird übrigens in einer [3][Studie der „Forschungs- und
       Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in
       Niedersachsen“] erwähnt, weil er in seiner Jugend in rechtsextremen
       Organisationen aktiv gewesen sein soll. Die taz hatte im Mai darüber
       berichtet. Laut OLG-Sprecher Andreas Keppler liegen allerdings nach
       Auswertung dieser Studie keine Erkenntnisse vor, die ein
       Disziplinarverfahren gegen den Mann rechtfertigen könnten. Man habe keine
       Anhaltspunkte dafür, dass die Angabe des Richters unzutreffend wäre, dass
       er seit Eintritt in den Staatsdienst nicht mehr politisch aktiv war.
       Gleichwohl nehme das OLG die Studie sehr ernst und sensibilisiere seine
       Mitarbeitenden für Extremismus.
       
       63 Fallbeispiele an Weils Sprecherin übergeben 
       
       Zu besagter Mütterdemo vor der Staatskanzlei war als Vertretung für
       Ministerpräsident Weil die Regierungssprecherin Anke Pörksen erschienen.
       Ihr wurden von der Mutter Anna Hansen 63 Fallbeispiele aus Niedersachsen
       überreicht. Für die Grünen war die Abgeordnete Tanja Meyer gekommen, die
       sagte: „Sie rennen hier bei mir offene Türen ein. Das sind
       Menschenrechtsverletzungen, die mich betroffen machen. Ich werde mich für
       die Berücksichtigung des Themas einsetzen.“
       
       Ob nun der genannte Passus im Koalitionsvertrag ein Zeichen dafür ist?
       Immerhin will Rot-Grün Justiz und Polizei durch Weiterbildungen noch mehr
       für das Thema sensibilisieren. „Es bleibt abzuwarten, ob auch Taten
       folgen“, sagt Mundlos. „Und ob die Problematik des Artikels 31 der
       Konvention mitbearbeitet wird.“
       
       Ein kürzlich erschienener [4][Bericht des Europa-Rates zur Einhaltung der
       Istanbul-Konvention] hatte kritisiert, dass die PAS-Theorie in Deutschland
       weit verbreitet sei und ein hohes Risiko bestehe, dass Gewalt gegen Frauen
       und ihre Kinder unentdeckt bleibe. Nötig seien gegebenenfalls gesetzliche
       Maßnahmen und Schulungen, um hier gegenzusteuern.
       
       Der Soziologe Wolfgang Hammer hat kürzlich eine umfangreiche Analyse über
       „[5][Familienrecht in Deutschland]“ auf Basis von 1.000 Fällen verfasst.
       Dort weist er darauf hin, dass Richter, Verfahrensbeistände und Jugendämter
       über Jahre gezielt von der Väter-Lobby im Sinne der PAS-Theorie geschult
       wurden. In Fortbildungstexten für Jugendämter zum Beispiel wurde eine
       Neujustierung des Gewaltbegriffs angeregt. Da wird der eher von Männern
       ausgeübten „häuslichen Gewalt“, die von betreuenden Mütter ausgeübte
       „Verfügungsgewalt“ gegenübergestellt und damit erstere relativiert.
       
       Hammer verweist darauf, dass sogar der UN-Hochkommissar für Menschenrechte
       (UNHCR) vor der PAS-Theorie warnt, die dazu führe, Kinder ungerechtfertigt
       von den Eltern zu trennen. Dessen Büro sammle bis zum 15. Dezember Fälle
       von Betroffenen aus den Vertragsstaaten, da sich die Manipulations-Theorie
       immer weiter ausbreite. Hammer: „In Deutschland ist es das Konstrukt der
       ‚Entfremdung‘ und ‚Bindungsintoleranz‘, unter dessen Generalverdacht Mütter
       stehen. Die Anklage ist Schuldspruch zugleich.“
       
       Der Passus in Niedersachsens Koalitionsvertrag ist Hammer zu vage. „Da muss
       man offensiver vorgehen“, findet er. Die Länder müssten dringend
       aufarbeiten, wo es diese Fortbildungen gab.
       
       Auch Anna Hansen ist die Ankündigung „noch nicht aussagekräftig genug“.
       Ihre Gruppe nennt sich jetzt „Mütter gegen Gewalt“ und will Mitte Dezember
       eine neue Aktion starten, „wenn der Landtag tagt“.
       
       7 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Mutter-ueber-Sorgerechtsprozesse/!5889961
   DIR [2] /Istanbul-Konvention-in-Deutschland/!5891334
   DIR [3] /Richter-mit-rechtsextremer-Vergangenheit/!5847770
   DIR [4] https://www.bmfsfj.de/resource/blob/202386/3699c9bad150e4c4ff78ef54665a85c2/grevio-evaluierungsbericht-istanbul-konvention-2022-data.pdf
   DIR [5] https://www.familienrecht-in-deutschland.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kaija Kutter
       
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