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       # taz.de -- „Zütphen-Oratorium“ in Bremen: Was wollen wir feiern?
       
       > Bremen war über Jahrhunderte eine Stadt der Ausgrenzung aller
       > Nicht-Reformierten. Nun feierte ein Oratorium die erste evangelische
       > Predigt in Bremen.
       
   IMG Bild: In Bremen gefeiert, in Dithmarschen 1524 ermordet: Reformator Heinrich Gelrie aus Zütphen
       
       Die Erhebung des Reformationstages zum staatlichen Feiertag ist eine
       politische Fehlentscheidung. Aber immerhin gibt der freie Tag Gelegenheit
       und Zeit, über das „Zütphen-Oratorium“ zu reflektieren. Vergangenen Sonntag
       wurde es aus Anlass der Einführung der [1][Reformation] in Bremen
       uraufgeführt.
       
       Der Mönch Heinrich aus dem niederländischen Zutphen hielt nämlich am 9.
       November 1522 die erste evangelische Predigt in Bremen. Seither ist die
       Stadt unangefochten protestantisch. Wenn das kein Oratorium wert ist? Die
       wenigen Katholik:innen an der Weser wurden in der Folge so erfolgreich
       marginalisiert, dass sie bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht als
       vollwertige Bremer:innen galten. Unter keinen Umständen konnten sie zu
       Amt und Würden kommen.
       
       Der Bremer Rat definierte sich schon bald als „reformiert“, folgte also der
       Theologie von Jean Calvin und Hyldrich Zwingli, in strenger Abgrenzung
       wiederum zu den Lutheranern. Die Religionspolitik der Stadtregierung war
       höchst vernagelt, im wörtlichen Sinn: Selbst die Türen des lutherischen
       Doms wurden gesperrt.
       
       Der Dom stellte innerhalb der Innenstadt eine exterritoriale Enklave dar.
       Seine erzwungene Schließung dauerte Jahrzehnte. Schließlich stürzte der
       Südturm ein und hinterließ eine gewaltige Ruine vis-à-vis dem Rathaus. Erst
       angesichts dieses Anblicks siegte der bremische Pragmatismus über den
       religiösen Eifer, der Dom durfte instand gesetzt werden.
       
       ## „Code civil“ sorgt für Gleichberechtigung
       
       Bemerkenswert bleibt: Die dauerausgegrenzte jüdische Bevölkerung befand
       sich über lange Phasen der Bremischen Geschichte in „guter Gesellschaft“,
       sowohl der Katholiken als auch der „falschen“ Protestanten, der Lutheraner.
       Lediglich die französische Besetzung der Stadt 1806 brachte kurzfristige
       Gleichberechtigung. Nun galt der „Code civil“ als allgemeines bürgerliches
       Gesetzbuch. Allerdings nur kurz: Der Erfolg der gern gefeierten
       anti-napoleonischen „Befreiungskriege“ bedeutete für viele erneute
       Unfreiheit.
       
       Zurück zu Heinrich von Zütphen: Als er 1522 nach [2][Bremen] kam, stieß er
       auf große Unzufriedenheit über die Privilegien und Geschäftspraktiken der
       Geistlichkeit. Nicht nur am Ablasshandel bereicherte sie sich: Besonderen
       Unmut erregte der Umstand, dass der Klerus – abgabenfrei – Bier aus
       [3][Hamburg] beziehen durfte. Heinrichs Predigten fanden so großen Zulauf,
       dass der Erzbischof ein Inquisitionsverfahren gegen ihn anstrengte. Wie
       klingt eine solche Geschichte in Musik gefasst?
       
       Mit Keno Hankel wurde ein junger Komponist beauftragt – der gleichwohl eine
       konventionelle Klangsprache wählte. Bei den im oratorischen Ablauf
       regelmäßig vorgesehenen Gemeindechorälen mag das nicht überraschen. Die
       müssen immer irgendwie nach Bach klingen. Aber die Rezitative, die
       handlungstreibenden, erzählenden Einwürfe der Evangelistin?
       
       Gewiss, dass mit Anja Petersen eine Frau diesen Part übernimmt, ist eine
       echte Umbesetzung im traditionellen Oratoriumsformat – das als solches
       gleichwohl traditionell bleibt. Dramaturgischer Höhepunkt des Werkes ist
       denn auch ein „Melodram“ genanntes Duell zwischen Gericht und Reformator,
       das den oratorischen Formenkanon verlässt: Erik Roßbander als Erzbischof
       donnert und giftet Heinrich (Julian Redlin) die obrigkeitliche Anklage
       entgegen – der wiederum wehrt sich mit kurzen, eindringlichen
       Gesangssentenzen und verweist auf seinen Glauben als „einzigem Weg zum
       Heil“.
       
       Nun muss nicht jede neue Komposition auch neutönen. Etwas unglücklich ist
       zudem, dass ausgerechnet beim kompositorisch ambitionierten
       Instrumental-Intro, der „Sinfonia“, die Barocktrompeten partiell patzen.
       Mit ihren divergierenden Stimmungen stehen sie für die religiösen
       Konkurrenzen – rhythmische Divergenzen waren hingegen nicht vorgesehen. Das
       eigentlich zu Bedauernde aber ist der evangelische Triumphalismus, den
       Hankel seinem Werk einkomponiert: Pauken und crescendierende Trompeten
       stilisieren Heinrichs Bekenntnisworte zu sieghaften Zeichen des
       Rechthabens.
       
       Das irdische Ende des Heinrich ist dennoch ein Scheiterhaufen. Nicht in
       Bremen brennt er, sondern in Dithmarschen, wo Heinrich ebenfalls die
       Reformation einführen will. Martin Luther hat das in seiner „Historie von
       Bruder Heinrich von Zütphens Märtyrtode“, die auch auf Plattdeutsch
       erschien, detailreich beklagt. „Die blutigsten Stellen“ des Luther’schen
       Originals, sagt Hankel, habe er beim Verfassen des Librettos allerdings
       „noch ausgespart“.
       
       Ausgespart bleibt auch der größere historische Zusammenhang: Dithmarschen
       war als Bauernrepublik umringt von feudalen Feinden. Eine Provokation des
       Erzbischofs durch Heinrichs Predigten stellte ein beträchtliches Risiko
       dar. Statt Heinrich außer Landes zu bringen, wurde er allerdings auf
       übelste Weise zu Tode gebracht. Luther war davon tief getroffen. Im Jahr
       darauf erschien [4][seine berüchtigte Schrift] „Wider die Mordischen und
       Reubischen Rotten der Bawren“: Sie fordert von den Fürsten, alle
       aufständischen Bauern zu „zerschmeißen“. Es solle sie „würgen, stechen,
       heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen
       muss“.
       
       Viele sehen darin Luthers Verrat am ersten Versuch einer Revolution in
       Deutschland. Weitere Gräueltaten der Bauernkriege spielten dabei eine Rolle
       – aber auch Heinrichs Schicksal, was im Rahmen des Oratorium-Projekts eine
       relevante historische Dimension gewesen wäre.
       
       Ein solches Großwerk in Auftrag zu geben und zu realisieren, ist eine
       gewaltige Leistung. Die St.-Ansgarii-Gemeinde knüpft damit an ihre
       historische Pionier-Rolle an, sie war der Ort der ersten evangelischen
       Predigten in Bremen. Die Gemeinde hat einen bemerkenswerten Chor, den
       Kantor Kai Niko Henke, ebenso wie das Norddeutsche Barock-Collegium, mit
       souveräner Ruhe leitete.
       
       ## Militanter Antisemitismus
       
       Was aber kann man mit dem Reformationstag nun weiter anfangen? Nichts.
       Seine Einführung als staatlicher Feiertag war ein vierfacher Fehler: als
       religiöser, christlicher, konfessioneller und – viertens – Martin Luther
       ehrender Tag.
       
       Eine Kette sich steigernder Abgrenzungsmerkmale. Luthers militanter
       Antisemitismus wurde bei der Entscheidungsfindung 2018 nicht ignoriert,
       aber bagatellisiert. Unvergessen, wie der damalige Bremer
       CDU-Fraktionsvorsitzende Thomas Röwekamp, heute Bundestagsabgeordneter
       seiner Partei, im Parlament behauptete: Am Reformationstag gehe es „nicht
       um einzelne Akteure wie Martin Luther“. Sprachs und baute vor sich das
       Reformator-Figürchen auf, das Playmobil gerade auf den Markt gebracht
       hatte.
       
       Begründet wurde der Entschluss schließlich mit einer entsprechenden
       Regelung in Niedersachsen, von der man sich nicht „insulär“ abgrenzen
       solle. Die wiederum war gegen das ausdrückliche Votum der jüdischen
       Gemeinden getroffen worden.
       
       Wie wäre ein staatlicher Feiertag so zu definieren und zu legen, dass er
       integrative Ausstrahlung entfaltet? Etwa auf den Internationalen Tag der
       Menschenrechte, den 10. Dezember. Stattdessen entschieden sich die
       norddeutschen Länder in einem munteren Domino-Effekt für den
       Reformationstag. Dabei spielte eine wesentliche Rolle, dass man sich
       gegenüber den vielen süddeutschen Extra-Feiertagen benachteiligt fühlt –
       völlig zu Recht! In dieser Logik läge es also durchaus, auch den 10.
       Dezember als staatlichen Feiertag zu verankern.
       
       Er ist, als Tag seiner Ermordung, auch der kirchliche Gedenktag an Heinrich
       v. Zütphen. Wenn das, evangelisch formuliert, keine „Fügung“ ist!
       Jedenfalls ist es ein Kompromiss-Angebot.
       
       Und der 31. Oktober? Den sollten wir getrost der neudeutschen Melange aus
       Halloween und Weltspartag überlassen. Ohne staatlichen Würdigungsanspruch.
       
       11 Nov 2022
       
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