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       # taz.de -- Tigray nach dem Friedensabkommen: Zwischen Trauma und Hoffnung
       
       > Tigrays TPLF-Rebellen und Äthiopiens Regierung haben Frieden geschlossen.
       > Und nun? Eindrücke aus Mekelle, der Hauptstadt der Region.
       
   IMG Bild: Mekelle im Mai 2021: Blick aus einem kaputten Fenster im Ayder-Krankenhaus
       
       Mekelle taz | Krieg ist Zerstörung. Er zerstört Leben. Alle Energie und
       alle Zeit fließt in den Krieg. Tigrays tödlichster Krieg hat das Volk
       massiv geschädigt. Viele Menschen sind tot, viele mussten ihre Heimat
       verlassen und leben seit zwei Jahren in improvisierten Lagern und
       verlassenen Schulgebäuden, wo sie zum Überleben auf ihre Angehörigen, die
       Einwohner von Mekelle und die seltene Hilfe von USAID angewiesen sind.
       
       Diese Menschen hatten einmal ein Einkommen, sie waren Farmbesitzer,
       Händler, Viehzüchter, Landarbeiter. Ihre Häuser, ihr Besitz, ihre Ernten,
       ihr Geld wurde von Eritreas Armee und den Fano-Milizen aus Amhara
       geplündert.
       
       Mama Tsega kam vor zwei Jahren aus [1][Humera] im Westen Tigrays, als
       schwere Artillerie den Ort bombardierte. Sie floh auf einem Traktor und zu
       Fuß. „Ich sah Mütter, Kinder und junge Leute unter dem Granatenbeschuss
       sterben, wir liefen über die Leichen meiner Angehörigen und Nachbarn“,
       erzählt die 62-Jährige und weint.
       
       „Es dauerte über einen Monat, bis wir Mekelle erreichten. Eine gesegnete
       Stadt! Die Menschen in [2][Mekelle] haben ein gutes Herz. Anfangs kamen sie
       so oft und brachten uns Essen, Kleidung, Schuhe, Matratzen, Decken,
       Kochgeschirr und alles. Wir leben noch wegen der Menschen in Mekelle. Sie
       teilen immer noch ihr Essen mit uns, obwohl sie selbst zu wenig haben. Ich
       bin so dankbar! Ich trauere noch um die Toten und um meine Verwandten, die
       ich vor zwei Jahren zuletzt sah. Ich weiß nicht, wo sie jetzt sind: ob sie
       leben, ob sie tot sind, ob sie in Haft sitzen und von den Teufeln gefoltert
       werden? Ich habe keine Vorstellung.“
       
       Die alte Frau weint immer weiter. „Wenn der sogenannte Frieden echt ist –
       ich kann es nicht erwarten, meine Verwandten wiederzusehen, mein Haus,
       meine Heimatstadt.“
       
       ## „Abiy hat das Blut unserer Kinder an seinen Händen“
       
       Die Wirkung des Krieges ist grausam. Mama Silas trauert noch immer um die
       mindestens 19 Kinder, die starben, als am 26. August ein Jet Bomben auf
       einen Kindergarten warf. Sie lebte mit ihrem 12-jährigen Enkel Abel.
       „Dieser verfluchte Tag“, erinnert sich Mama Silas. „Ich war auf dem Markt
       und wir hörten das Geräusch des Jets und die Leute rannten herum und dann
       gab es einen lauten Knall, als die Bombe fiel. Als ich fragte, wo, sagten
       sie: bei mir in der Gegend. Ich ließ meine Sachen liegen, als ich nach
       Hause kam, sah ich viele Körper in Stücke gerissen, die lagen überall herum
       …“
       
       Mama Silas weint laut. Sie muss sich erst beruhigen, bevor sie
       weitererzählen kann.
       
       „Dann sah ich die Kleidung meines Enkels.“
       
       Sie weint weiter, dann erhebt sie die Stimme.
       
       „Wäre ich doch bloß an seiner Stelle. Mein Gott! Wäre ich doch vor ihm
       gestorben. Er war der einzige Sohn meiner Tochter. Warum hat Gott das
       zugelassen? Es waren unschuldige Kinder mit reinen Herzen. Sie spielten
       bloß. Abiy der Teufel hat das Blut unserer Kinder an seinen Händen. Ich
       glaube nicht, dass er mit uns Frieden will, er war nie ein Mann des
       Friedens, er war ein Schlächter, er bekommt nie genug von unserem Blut. Ich
       verstehe nicht, warum die Welt nicht auf uns gehört hat. Sind wir keine
       Menschen?“
       
       Das [3][Friedensabkommen vom 2. November] zwischen der TPLF (Tigray
       People’s Liberation Front, die in Tigray herrschende Partei, die von
       Äthiopiens Regierung bekämpft wird) und Äthiopiens Bundesregierung hat
       viele Menschen erleichtert. Aber es sorgt auch für heftigen Streit unter
       Tigrayern. Ich sehe, wie sie diskutieren, beim Tee und bei der Arbeit.
       Manche fühlen sich von der TPLF verraten. Manche warten, mehr zu erfahren
       über schockierende Zusagen wie die „Entwaffnung“ der TPLF. Was wird denn
       dann aus den Menschen in Tigray, fragen sie?
       
       ## Keine Luftangriffe mehr
       
       Ich sehe aber auch Lächeln auf vielen Gesichtern und lese darin Hoffnung.
       Es gab so viele Tote: Luftangriffe, Artilleriebeschuss, Hunger, fehlende
       medizinische Versorgung, Geldmangel. So viele junge Männer starben auf dem
       Schlachtfeld, sie sind unvergessen. Die Unsicherheit des Überlebens scheint
       nun etwas kleiner geworden zu sein.
       
       Das liegt daran, dass es nicht mehr jeden Tag Luftangriffe in Mekelle gibt.
       Seit ein paar Tagen spielen wieder Kinder draußen. „Es wird kein Jet mehr
       kommen und uns töten“, sagen sie, „wir können spielen, ohne Angst zu
       haben“. Einer ergänzt: „Ja! Wir werden Schuluniform anziehen und zur Schule
       gehen.“
       
       Aber sobald sie ein Geräusch hören – ein Auto, ein Motorrad, sogar eine
       Schubkarre – bekommen sie Panik und rennen ins Haus. Sie erinnern sich.
       
       Genet erzählt, wie sie und ihre Kinder sich einst vor einem Drohnenangriff
       in Sicherheit brachten. „Wir aßen zusammen Mittag und wir hörten die
       Drohne“, berichtet sie. „Der Älteste war bei meinen Eltern, aber ich war
       mit meinem Dreijährigen zu Hause, Zema, und meiner anderthalbjährigen
       Tochter. Ich drückte meine Kinder an mich, aber ich war panisch. Ich fragte
       mich, wo die anderen waren und wo die Drohne zuschlagen könnte. Wer ist
       heute dran mit Sterben?“ Dann sagte der kleine Zema, sie sollten zu seinem
       Freund Micky rennen, der habe ein großes Haus, da würde die Drohne nicht
       treffen. „Er weiß nicht, was eine Drohne macht, aber er hat gelernt, was
       wir immer tun und wie wir zu Hause reden, um uns vor Angriffen zu
       schützen“, sagt sie. „Wir gingen zum Haus seines Freundes und blieben dort,
       bis es vorbei war. Ich konnte nicht aufhören, zu weinen und mich um meinen
       Mann und meine Eltern zu sorgen.“
       
       „Wenn das Friedensabkommen echt ist“, fährt Genet fort, „ist es wie eine
       Wiedergeburt für mich und meine Familie. Ich kann es nicht glauben, dass
       wir den Tod überwunden haben, der an unserer Tür lauerte. Ich kann es nicht
       glauben, dass wir zurück zum Leben in Frieden gehen. Wenn ich an die Jungen
       denke, die für uns gestorben sind, zerbreche ich.“
       
       Viele Familien sind seit Kriegsbeginn getrennt: Einzelne Angehörige gingen
       nach Addis Abeba oder ins Ausland zum Arzt und konnten nicht zurück, oder
       Kinder gingen zu Verwandten und haben ihre Eltern seitdem nicht mehr
       gesehen. „Mein Papa wird nach Hause kommen, er wird mir Kekse bringen und
       Schokolade und Kleidung“, zitiert Semira, deren Mann aus Gesundheitsgründen
       nach Addis Abeba ging, ihren kleinsten Sohn, der sich an seinen Vater nicht
       erinnert. „Wir hatten ein großes Haus und ein schönes Leben. Heute habe ich
       ein kleines Haus, mein Sofa und Fernseher und meinen Schmuck habe ich
       verkauft, jetzt verkaufe ich Tee und Kaffee auf der Straße, damit meine
       Kinder zu essen haben“, berichtet sie. „Ich sorge mich um meinen Mann. Wie
       lebt er? Ich habe gehört, Tigrayer wurden wegen ihrer Ethnie verhaftet.
       Seit ich vom Frieden gehört habe, kann ich nicht mehr schlafen. Ich will
       meinen Mann wiedersehen, ich will unser Leben zurück“.
       
       Diese Woche haben etwa die Hälfte der Bewohner von Mekelle
       Lebensmittelhilfe erhalten, zum ersten Mal seit Monaten. Als die Nachricht
       vom Frieden die Runde machte, sanken einige Preise. Aber es sterben immer
       noch Menschen: sie hungern, sie können nicht versorgt werden, sie haben
       kein Geld.
       
       ## Eritreas Armee plündert weiter
       
       Und außerhalb von Mekelle hat es weiter Angriffe gegeben. Viele Menschen
       fliehen nach Mekelle und Gerüchte neuer Drohnenangriffe machen die Runde:
       am Donnerstag und Freitag, den Tagen nach der Unterzeichnung, in Adigrat,
       Wukro-maray und Wukro. Bestätigt ist das nicht. In Zalambessa und
       Edaga-arbit finden schwere Kämpfe statt. Der Krieg dort wird vor allem von
       der [4][EDF (Eritrean Defence Forces], Eritreas Armee) geführt. Sie will
       entweder das Friedensabkommen brechen und neue Gebiete erobern oder noch
       etwas plündern, vergewaltigen und Greueltaten begehen.
       
       In den Gebieten unter ihrer Kontrolle – Adwa und [5][Shire] und andere
       Kleinstädte – stehlen die EDF Autos, sie gehen in jedes Haus und nehmen
       mit, was sie können, sie zünden Ernten an, sie bringen Dinge über die
       Grenze nach Eritrea. Am vergangenen Samstag berichtete ein Kriegsopfer aus
       Edaga-arbi in einem Krankenhaus von Mekelle, seine Stadt sei bis Freitag
       noch bombardiert worden. Da die EDF und [6][ENDF (Ethiopian National
       Defence Force], Äthiopiens Armee) gemeinsam kämpfen, ist nicht klar, ob die
       ENDF nicht auch Übergriffe begeht. Es gab Artilleriebeschuss auf Abyi-adi
       bis 4. November, es gab schwere Angriffe auf Adigrat am 3. November,
       berichten Fliehende.
       
       ## „Wie kann ich meinem Feind trauen?“
       
       Ein Soldat der [7][TDF (Tigray Defence Force], die Tigray-Regionalarmee der
       TPLF), mit Wunden an beiden Armen und einem Bein, sagt: „Ich freute mich,
       als ich vom Friedensabkommen hörte. Wir zogen in den Kampf, um unserem Volk
       Frieden zu bringen. Wir sind nicht das Militär von irgendwem. Wir sind die
       Hüter unseres Volkes. Frieden steht über allem. So viele Helden haben ihr
       Leben und ihre Träume geopfert. Im Frieden hatten wir ein Leben, ich sorgte
       für meine Mutter und meine Geschwister. Als der Feind kam und Zivilisten
       tötete und unsere Schwestern und Mütter vergewaltigte, schloss ich mich dem
       Kampf an. Jetzt bin ich verwundet, meine Schwester sorgt für mich. Meine
       Familie ist auf dem Land. Wenn es Frieden gibt, gehe ich zurück zu meiner
       Arbeit.“
       
       Dann fährt er fort: „Aber ich habe ein Problem mit der ‚Entwaffnung‘. Der
       Feind darf seinen Fuß nicht auf unser Land setzen! Der Feind hat meine
       Brüder abgeschlachtet und meine Schwestern vergewaltigt. Wie kann ich sie
       hereinlassen und ihnen in die Augen blicken? Wir können uns nicht
       gegenseitig vertrauen. Ich habe Fragen zu der Entwaffnungserklärung
       gestellt. Man sagte mir, es gehe auch um die Integration der TDF in die
       ENDF und um Milizen für Sicherheit. Aber wie kann ich dem Land dienen, das
       mir und meinem Volk den Genozid erklärt hat? Ich kann nicht neben jemandem
       sitzen, der die äthiopische Uniform trägt. Wie kann ich meinem Feind
       trauen, der mein Volk getötet hat?“
       
       Die Autorin (richtiger Name der Redaktion bekannt) lehrt an der Universität
       Mekelle, deren Belegschaft ohne Gehalt den Notbetrieb aufrechterhält. Aus
       dem Englischen von Dominic Johnson
       
       8 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Krieg-in-Aethiopien/!5736994
   DIR [2] /Abschied-vom-Friedensvertrag/!5732031
   DIR [3] https://borkena.com/2022/11/04/ethiopias-peace-agreement-full-text/
   DIR [4] https://en.wikipedia.org/wiki/Eritrean_Defence_Forces
   DIR [5] /Krieg-in-Aethiopien/!5885841
   DIR [6] https://en.wikipedia.org/wiki/Ethiopian_National_Defense_Force
   DIR [7] https://en.wikipedia.org/wiki/Tigray_Defense_Forces
       
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