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       # taz.de -- Triage-Gesetz im Bundestag: Wer kriegt das letzte Intensivbett?
       
       > Im Katastrophenfall stehen Ärzt*innen vor einer schrecklichen
       > Entscheidung. Dazu beschließt der Bundestag eine Regelung, die kaum
       > diskutiert wurde und Tabus bricht.
       
   IMG Bild: Als die Betten knapp wurden: Coronastation während der vierten Welle im Kreis Augsburg
       
       Berlin taz | Für die Diskussion und finale Abstimmung über eine
       Triage-Regelung im Pandemiefall sind am Donnerstag im Bundestag 45 Minuten
       eingeplant. Eingeklemmt zwischen einer aktuellen Stunde zur Chinastrategie
       und einer Beratung über den Erhalt des Verbrennungsmotors.
       
       Das [1][Gesetz], das da mal eben beschlossen werden soll, [2][bezeichnen
       Behindertenrechtsaktivist:innen] als „Selektionsgesetz“, als einen
       „Zivilisationsbruch“, über dessen Tragweite sich weder Parlamentarier noch
       Gesellschaft im Klaren seien. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat
       sich eingeschaltet. Und auch von Mediziner:innen hagelt es Kritik, aber
       wiederum aus einer ganz anderen Richtung.
       
       Dieses Gesetz hat eine Vorgeschichte, die Anfang 2020 im italienischen
       Bergamo beginnt. Mit brutalen Bildern aufgereihter Leichentransporte zum
       ersten Höhepunkt der Coronapandemie, mit Schreckensmeldungen verzweifelter
       Ärzt:innen, die entscheiden mussten, welche der schwerkranken
       Patient:innen behandelt werden, weil die Ressourcen nicht für alle
       ausreichten.
       
       Die notfall- und intensivmedizinischen Fachgesellschaften in Deutschland
       beschlossen, sich auf diesen Ernstfall vorzubereiten und erarbeiteten
       Leitlinien für den Umgang mit derartigen Triage-Situationen. Triage ist ein
       Prozess, der jeden Tag in den Notaufnahmen stattfindet: Sichtung der
       eintreffenden Patient:innen nach Dringlichkeit – wer muss zuerst
       behandelt werden, wer kann länger warten, ohne dass es lebensbedrohlich
       wird.
       
       ## Bloß kein Bergamo
       
       Die Triage in Hochlastsituationen – wenn also bereits alle Kapazitäten an
       Betten, medizinischen Geräten, Operationssälen und vor allem auch
       medizinischem Personal ausgeschöpft sind – ist der Katastrophenfall, der
       mit Corona erstmals seit den Weltkriegen wieder in den Raum des Möglichen
       rutschte.
       
       Die Leitlinien der Fachgesellschaften sahen für diesen Fall eine Auswahl
       der zu behandelnden Patient:innen nach Kriterien wie
       Begleiterkrankungen, Gebrechlichkeit und allgemeinen Gesundheitszustand
       vor.
       
       „Uns war klar, dass wir die Ersten wären, die so aussortiert würden“, sagt
       der Inklusionsaktivist und niedersächsische Landtagsabgeordnete Constantin
       Grosch (SPD). Er ist einer der Menschen mit Behinderung, die
       Verfassungsbeschwerde einlegten, um den Gesetzgeber zu zwingen, sich mit
       dieser Frage zu beschäftigen.
       
       Tatsächlich wies das [3][Bundesverfassungsgericht im Dezember 2021] den
       Gesetzgeber an, eine Lösung zu finden, die die Diskriminierung einzelner
       Personengruppen ausschließt. Das war auf dem Höhepunkt der vierten Welle,
       als vor allem in Süddeutschland die [4][Intensivbetten derart knapp
       wurden], dass schwerkranke Patient:innen mit der Luftwaffe nach
       Norddeutschland geflogen wurden. „Wir waren ein Bett davor“, sagt Axel
       Heller, zuständig für die Krankenhauskoordination im Raum Augsburg. In
       diesen Spitzenzeiten habe es nur noch ein freies Intensivbett für ein
       Gebiet von 900.000 Menschen gegeben.
       
       ## Überlebenswahrscheinlichkeit nach Punktesystem
       
       Im Frühjahr legte das von Karl Lauterbach (SPD) geführte
       Gesundheitsministerium einen Vorschlag für eine Triage-Regelung im
       Infektionsschutzgesetz vor. Zentrales Kriterium ist darin die „aktuelle und
       kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“, die anhand eines Punktesystems
       eingeschätzt werden soll. Kurz gesagt: Menschen mit höherer
       Überlebenswahrscheinlichkeit erhalten bei zu knappen Ressourcen den Vorrang
       in der intensivmedizinischen Behandlung.
       
       Diese Art der Auswahl sollte greifen, wenn wenige freie Behandlungsplätze
       auf zu viele Patient:innen verteilt werden müssen. Bei der sogenannten
       Ex-ante-Triage bekommen also beispielsweise von 20 gleich dringenden
       Patient:innen diejenigen Zugang zu den 10 verfügbaren
       Behandlungsplätzen, die mit der Behandlung am wahrscheinlichsten überleben.
       
       Noch einen Schritt weiter geht die sogenannte Ex-post-Triage, bei der
       Menschen eine bereits begonnene Intensivbehandlung wieder entzogen wird –
       um sie einer Person zu gewähren, bei der eine höhere
       Überlebenswahrscheinlichkeit vermutet wird. Diese Möglichkeit [5][verwarf
       Lauterbach nach vehementer Kritik].
       
       Der nun zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf steht allerdings bei allen
       Betroffenen in massiver Kritik.
       
       ## Alternative Kriterien
       
       Es gibt die Perspektive der Ärzt:innen. In Simulationen haben
       Intensivmediziner:innen um Axel Heller in Zusammenarbeit mit dem
       Wirtschaftswissenschaftler Jens O. Brunner errechnet, dass erst die
       Ex-post-Triage auf Basis der Überlebenswahrscheinlichkeit zu einer
       wesentlichen Verringerung der Anzahl der Verstorbenen führt. Das betreffe
       auch und gerade die Gruppe der vorerkrankten und beeinträchtigten Menschen.
       
       Auch der Münchner Medizinethiker Georg Marckmann schloss sich in einer
       Anhörung des Gesundheitsausschusses im Oktober 2022 dieser Sichtweise an:
       Eine gesetzliche Regelung ohne Ex-post-Triage erfülle die Aufgabe nicht,
       vulnerable Gruppen zu schützen. Der aktuelle Gesetzentwurf sei „absolut
       untragbar“.
       
       Demgegenüber steht die Perspektive von Behinderten- und
       Menschenrechtsaktivist:innen. Es sei auf den ersten Blick nachvollziehbar,
       „mathematisch Menschenleben retten“ zu wollen, [6][sagt Sozialarbeiterin
       Anne Gersdorff]. „Aber der Preis, der für die Maximierung der zu rettenden
       Lebensjahre zu zahlen ist, wird konsequent ausgeblendet.“
       
       Wenn Menschen nach Überlebenswahrscheinlichkeiten sortiert werden, stellt
       das einen der Eckpfeiler der Verfassung infrage, die sogenannte
       Lebenswertindifferenz. Kein Leben ist mehr wert als ein anderes, keines
       kann gegen ein anderes aufgewogen werden.
       
       Es gebe alternative Kriterien, die nicht auf Vermutungen und Stereotypen
       beruhten, sagt [7][Richterin Nancy Poser]. „Einer öffentlichen Debatte zu
       diesem Thema verweigert sich die Politik aber“, so Poser.
       
       ## Tragweite unterschätzt
       
       Das [8][Deutsche Institut für Menschenrechte] hält den Gesetzentwurf für
       unvereinbar mit dem Grundsatz der Gleichwertigkeit des menschlichen Lebens
       und forderte in der vergangenen Woche eine Verschiebung der Debatte und
       eine Abstimmung ohne Fraktionszwang. Direktorin Beate Rudolf hatte an alle
       Parlamentarier brieflich appelliert, sich eine eigene, menschenrechtlich
       fundierte Meinung zu bilden, und eine breite gesellschaftliche Debatte wie
       bei anderen medizinethischen Fragen gefordert.
       
       Corinna Rüffer ist behindertenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im
       Bundestag. Sie sei sich sicher, dass die wenigsten der
       Bundestagsabgeordneten die Tragweite der Regelung abschätzen können, über
       die sie da am Donnerstag abstimmen, so Rüffer. „Wenn es eine ethisch
       relevante Frage gibt, dann ist es diese, und die kann man nicht in einem
       Standardgesetzgebungsverfahren abhandeln.“
       
       Es habe seit 1945 noch nie ein Gesetz gegeben, das die
       Lebenswertindifferenz infrage stellte. Dieser Bruch sei nicht im Ansatz in
       der bisherigen Debatte gewürdigt worden. „Es ist inmitten von Krisen eine
       schwierige Zeit für ethische Debatten im Bundestag“, beklagt Rüffer.
       
       Dass die Regelung zur pandemiebedingten Triage an diesem Donnerstag trotz
       aller Kritik so beschlossen wird, ist sehr wahrscheinlich. Die Liga
       Selbstvertretung und die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in
       Deutschland rufen für den Zeitpunkt der Abstimmung [9][zu einer
       Schweigeminute] am Reichstag auf.
       
       Sowohl Ärzt:innen als auch Behindertenrechtsaktivist:innen
       rechnen mit einem erneuten Gang zum Bundesverfassungsgericht. „Diese
       Geschichte ist am Donnerstag noch nicht zu Ende“, sagt auch
       Grünen-Politikerin Corinna Rüffer.
       
       10 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw45-de-infektionsschutzgesetz-917438
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=ccXaOn_DBFU
   DIR [3] /BVerfG-zu-Menschen-mit-Behinderung/!5821967
   DIR [4] /Mediziner-ueber-Triage-in-der-Pandemie/!5818986
   DIR [5] /Gesundheitsminister-zur-Triage/!5850690
   DIR [6] https://www.youtube.com/watch?v=ccXaOn_DBFU
   DIR [7] /Richterin-ueber-Triage/!5735415
   DIR [8] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuelles/detail/triage-gesetzgebung-braucht-breite-parlamentarische-debatte
   DIR [9] https://www.isl-ev.de/index.php/aktuelles/nachrichten/2646-jedes-leben-ist-gleich-viel-wert-schweigeminute-zur-triage-gesetzgebung
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manuela Heim
       
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