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       # taz.de -- Erotikmesse Venus in Berlin: Starrende Männer
       
       > Die Venus, Deutschlands größte Erotikmesse, ist zurück. Nach zwei Jahren,
       > in denen sich die Welt verändert hat. Die Pornoindustrie auch?
       
   IMG Bild: Männer fotografieren, Frauen posieren auf der Venus in Berlin
       
       Behutsam streicheln die Männerhände über die riesigen Silikonbrüste. Die
       Sexpuppe des Herstellers Bezlya Network Technology Limited lässt es klaglos
       über sich ergehen. Sie sitzt auf einem Klappstuhl vor dem Stand des
       Ausstellers aus China. Die Hausmädchenuniform wurde ihr nach oben gezogen,
       damit die Brüste betastet werden können. „Hast du so eine schon zu Hause?“,
       fragt Ella Mortadella, die ebenso große wie grazile Dragqueen. Sie leitet
       die Blindenführung auf der Erotikmesse Venus 2022, ein inklusives Angebot,
       das es sehbehinderten Menschen erlaubt, die Venus zu spüren.
       
       „Nein“, kommt es sofort aus dem Mann heraus, der die Sexpuppe berührt –
       „Noch nicht“, fügt er scherzhaft hinzu. Die Gruppe lacht, während das junge
       chinesische Personal, das den Stand betreut, interessiert zuschaut, wie ihr
       Produkt befummelt wird. Natürlich nur mit medizinischen Einmalhandschuhen.
       Denn die Pandemie ist, viele vergessen es, noch nicht vorbei.
       
       Auch die Venus, eine der größten Erotikmessen der Welt, hat Corona zu
       spüren bekommen. Zwei Jahre pausierte die Messe. Die Branche hat sich
       seitdem verändert. Doch in Halle 20 des Berliner Messegeländes scheint
       alles wie in vorpandemischen Zeiten. Wer den pinken Teppichboden betritt,
       wird direkt mit nackten Tatsachen konfrontiert.
       
       ## Gratisbilder und Gaffer
       
       Auf Barhockern sitzen junge Frauen, die mit Sexspielzeugen masturbieren,
       während Laptopkameras auf sie gerichtet sind. Eine Männermeute steht dicht
       an dicht hinter einer Absperrung und fotografiert. Für den ein oder anderen
       Besucher scheint die Aussicht auf freizügige Gratisbilder ein Ansporn für
       die Anreise gewesen zu sein. Auch Autogrammjäger sind unterwegs.
       
       Ein paar Meter weiter tanzen die erfolgreichsten Darstellerinnen der
       Amateurporno-Plattform MyDirtyHobby auf der Bühne des Ausstellers. Viel
       Silikon, viele Tätowierungen. Dazu Beschallung aus allen Richtungen. Viele
       Stände haben eine Musikanlage samt DJ mitgebracht. MyDirtyHobby bezeichnet
       sich selbst als größtes soziales Netzwerk für Erwachsene und ist
       Hauptsponsor der Messe. Als die Musik abklingt, ergreift Texas Patti das
       Mikrofon und bewirbt einen Erotikkalender. Die Einnahmen sollen dem Verein
       [1][Brustkrebs Deutschland e. V.] gespendet werden. Die Männer am
       Bühnenrand scheinen sich aber nur zweitrangig für den noblen Zweck des
       Kalenderverkaufs zu interessieren.
       
       Ein paar Stunden später sitzt Texas Patti auf einer Metalltreppe im
       Hinterhof des Messegeländes. Viel grauer Beton unter dem grauen Berliner
       Herbsthimmel. „In Los Angeles stehst du auf, und die Sonne scheint. Da hast
       du direkt gute Vibes“, sagt sie.
       
       Patti heißt eigentlich Bettina Habig, ist 40 Jahre alt und der
       erfolgreichste deutsche Porno-Export in die Vereinigten Staaten. Die
       gelernte Zahnarzthelferin aus Münster hat es geschafft. Mittlerweile lebt
       sie mit ihrem Mann in Hollywood, hat mehr als zwei Millionen Follower auf
       Instagram. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist sie als Pornodarstellerin
       aktiv und kann erzählen, wie die Pandemie die Welt der Pornografie
       verändert hat.
       
       So gab es vor Corona vor allem in den USA für die Darstellerinnen eine
       einmalige Zahlung pro Dreh. An weiteren Umsätzen aus dem Vertrieb wurden
       sie nicht beteiligt. „Ich habe damals zu einem amerikanischen Produzenten
       gesagt, ich gebe euch noch zwei Jahre, dann wird sich der Markt extrem
       verändern.“ Der Produzent habe damals abgewunken. „Never, Petty.“ Dann kam
       Corona – und die App „Onlyfans“ sei durch die Decke gegangen. In kurzer
       Zeit stieg die Mitgliederzahl von sieben auf neunzig Millionen. Die App
       bietet ihren Nutzern an, kurze Videos und Fotos hochzuladen – auch
       pornografisches Material. Wer die Inhalte sehen will, muss ein Abo
       abschließen, über den Preis entscheiden die Accountbetreiber.
       
       „Dann haben viele Mädels gemerkt: Okay, ich kann hier meinen eigenen
       Content machen und muss mich mit niemandem rumschlagen“, sagt Texas Patti.
       Viele Darstellerinnen hätten sich mit der App selbständig gemacht und der
       klassischen Pornoproduktion den Rücken gekehrt. Einige Produktionsfirmen
       seien daraufhin pleite gegangen.
       
       Ist das eine emanzipatorische Entwicklung? Immerhin gewinnen Frauen so
       neben der finanziellen Unabhängigkeit von den meist männlich geführten
       Studios auch kreative Freiheit. „So kann man das sehen“, sagt Texas Patti.
       Sie sieht aber auch eine Gefahr darin: „Das schnelle Geld kann gerade junge
       Menschen dazu verleiten, Dinge zu tun, mit denen sie sich vielleicht unwohl
       fühlen.“ Es fange mit niedlichen Bildern an „und dann enden sie beim
       Gangbang“.
       
       Das Alter sei ein großes Problem in der Erotikbranche. Viele Mädchen würden
       zu jung anfangen, findet Texas Patti. „Material mit Achtzehnjährigen lässt
       sich unfassbar gut verkaufen.“ Wenn es nach ihr ginge, sollte man erst ab
       25 legal Pornos drehen dürfen.
       
       Ethik in der Erotikbranche. Ein Thema, dem die Venus mit der Hedonistic
       Lounge das erste Mal eine große Bühne bietet. Gastgeberin dieser Plattform
       ist Dominique Insomnia, die Betreiberin des gleichnamigen Berliner Sexclubs
       Insomnia.
       
       Auf der Bühne neben der Lounge finden Aufklärungsvorträge von
       Sexualtherapeutinnen statt, etwa: „Der Penetrationsmythos und andere Dinge,
       die dir ein Sex-Coach über Vulvas erklären kann“. Auch die Initiative „Dein
       Sex. Deine Wahl“, die sich für die Enttabuisierung des Themas sexuelle
       Selbstbestimmung einsetzt, stellt in der Lounge aus – und [2][Paulita
       Pappel] mit ihrer Produktionsfirma „Lustery“.
       
       Lustery hatte für das ZDF einen ethisch korrekten Porno gedreht, der in
       [3][Jan Böhmermanns ZDF-Sendung „Magazin Royale]“ vorgestellt wurde. In der
       Ausgabe kritisierte Böhmermanns Redaktion die Verantwortungslosigkeit der
       Betreiber frei zugänglicher Pornoseiten. Dort könne jeder ohne
       Altersprüfung pornografische Inhalte abrufen – auch
       Missbrauchsdarstellungen. Lustery ist ein Gegenentwurf zum kommerziellen
       Porno, der meist für ein heterosexuelles männliches Publikum produziert
       wird und insbesondere Jugendlichen ein problematisches Bild von Sexualität
       vermittelt.
       
       Deshalb sieht Paulita Pappel auch positive Effekte der Pandemie auf die
       Pornoindustrie. Zwar nehme die künstlerische Qualität durch die
       Eigenproduktion eher ab, Machtstrukturen aber seien gebrochen worden:
       „Früher hatten die Produzenten viel Macht und heute einzelne
       Darstellerinnen.“ Das, so Pappel, sorge für mehr Diversität: Mehr queere,
       feministische, alternative Pornos.
       
       Pappels Porno, den sie für Jan Böhmermann gedreht hat, wurde auf der Venus
       ausgezeichnet – für die herausragendste Produktion 2022. Der Film, in dem
       zwei Männer und zwei Frauen miteinander schlafen, wird auch auf der Messe
       gezeigt. Als die beiden männlichen Darsteller beginnen, sich oral zu
       befriedigen, ruft ein Mann aus der Menge: „Boah, ist ja ekelhaft.“ Pappel
       schaut kurz zu ihm herüber, lächelt souverän und richtet ihren Blick wieder
       auf die Leinwand.
       
       Pappel ist dankbar, auf der Messe ausstellen zu dürfen, auch wenn nicht
       jeder Besucher bereit ist für ihre Filme. Für sie ist der Venus-Award ein
       Zeichen der Solidarität zwischen Mainstreamporno und feministischem Porno.
       Denn Politik und Gesellschaft stigmatisierten alle in der Branche.
       
       Diesem Problem gehen auch die Studentinnen der Charité nach. Sie suchen auf
       der Messe Teilnehmerinnen für eine Studie zur „Mental Health of Female
       Sexworkers in Berlin“. Viele ihrer Gesprächspartnerinnen hätten Probleme
       damit, mit Freunden oder Familie über ihren Job zu sprechen.
       
       Um die mentale Gesundheit der Sexpuppe von der Blindenführung muss man sich
       nicht sorgen. Am letzten Messetag trägt sie ein Schild um den Hals:
       „Sales!! 1.999 Euro“. Es ist eben nicht alles billig auf der Venus – auch
       inhaltlich.
       
       27 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://brustkrebsdeutschland.de/
   DIR [2] https://www.paulitapappel.com/
   DIR [3] /Die-Landesmedienanstalten-gegen-Pornos/!5849295
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jannis Holl
       
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