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       # taz.de -- Befreite ukrainische Stadt Kupjansk: Schreckliche Funde
       
       > Mit der Rückeroberung der Region Charkiw durch die Ukraine mehren sich
       > Indizien für Folterungen und illegale Verhaftungen durch das russische
       > Militär.
       
   IMG Bild: Kupiansk, 15. Oktober: Vor der Spurensicherung der Forensikexperten durchsucht ein Soldat einer ukrainischen Spezialeinheit eine Bahnstation nach Sprengstoff
       
       Warnung: Dieser Bericht enthält drastische Schilderungen von physischer
       Gewalt und Folter. 
       
       Kupjansk taz | Nach der [1][Rückeroberung der Region Charkiw] durch
       ukrainische Truppen seit September sind dort überall Gräber von Zivilisten
       und Orte zu finden, an denen die Russen Menschen illegal inhaftiert und
       gefoltert haben sollen. Schanna Wolschina lebt in Kupjansk und erzählt, was
       ihr Verwandter Roman Ewtejew erlitten hat: „Drähte wurden an den Genitalien
       und Ohren befestigt. Dann kamen die Stromschläge.“ Ewtejew, der nie in der
       Armee gedient und auch sonst keine militärische Erfahrung hat, saß
       zweieinhalb Monate in Haft. Er war beschuldigt worden, Sabotageakte gegen
       die Eisenbahn verübt zu haben.
       
       Mit seinem Onkel Wladimir war er in einer Zelle des zeitweiligen
       Untersuchungsgefängnisses der „Volksmiliz“ (so wurden die Polizeikräfte
       während der russischen Besatzung genannt) in Kupjansk inhaftiert. Dort
       seien sie mehrere Wochen gefoltert worden, um Geständnisse oder Aussagen
       aus ihnen herauszuprügeln, die andere belasten. Jetzt, so ist Schanna
       Wolschina überzeugt, bräuchten ihre Verwandten eine medizinische
       Behandlung, es müsse eine Tomografie des Kopfes gemacht werden.
       
       Die Frau sagt, dass die russischen „Volksmilizionäre“ während der
       ukrainischen Gegenoffensive schnell davongelaufen seien und Hunderte von
       Gefangenen in den Gefängnissen zurückgelassen hätten. „Die Leute saßen in
       geschlossenen Zellen, warteten auf Essen, auf Wasser.“ Irgendjemandem
       gelang schließlich die Flucht durch ein Fenster, andere schafften es auf
       das Dach. Dann suchten sie nach den Zellenschlüsseln und begannen damit,
       auch alle anderen Zellen zu öffnen.
       
       Unter den Befreiten waren auch ihre Angehörigen, die sie zunächst kaum
       wiedererkannte – die Männer hatten stark abgenommen. Schanna Wolschina ist
       davon überzeugt, dass Menschen in Kupjansk gefoltert wurden, weil sie laute
       Schreie und Hilferufe hörte, als sie versuchte, Lebensmittel zum Gefängnis
       zu bringen. „Die Häftlinge wurden geschlagen. Sogar hier in der Schlange,
       als wir darauf warteten, ihnen ein Paket zu geben, waren Schreie zu hören“,
       sagt sie. Jetzt ist Roman Ewtejew mit seinem Onkel Wladimir in Charkiw, sie
       haben nicht vor, nach Kupjansk zurückzukehren.
       
       ## 50 Gefangene in einer Zelle
       
       Die Russen hatten sich offensichtlich für einen längeren Aufenthalt in
       Kupjansk eingerichtet. So wurden hier entsprechende Behörden für den
       besetzten Teil des Charkiwer Gebietes eingerichtet. Die Miliz wurde mit
       1.000 russischen Uniformen ausgestattet, erzählt Dmitri Litwinenko,
       stellvertretender Leiter der Polizei im Gebiet Charkiw. Jetzt liegen diese
       Uniformen in den Etagen der ehemaligen „Polizeistation“ herum, die Russen
       haben nicht einmal versucht, sie mitzunehmen oder zu vernichten.
       
       Im Unterschied zu ihren Dokumenten. Als die Russen flohen, begannen sie,
       Papiere zu verbrennen. Der erste Stock der Abteilung, in dem sich die
       Diensteinheit befand, ging in Flammen auf. Dass dabei die Flammen nicht auf
       die Haftanstalt mit Hunderten von Häftlingen übergriffen, kommt einem
       Wunder gleich.
       
       Litwinenko sagt, dass die Russen hier zeitweise bis zu 300 Gefangene
       festgehalten hätten. Die Betroffenen hätten sich davor geweigert, mit den
       Besatzern zusammenzuarbeiten oder aus anderen Gründen deren Missfallen
       erregt. In einigen Zellen, die für fünf bis sechs Personen ausgelegt waren,
       seien 50 Häftlinge zusammengepfercht gewesen. „Die Leute wurden 15 bis 30
       Tage lang eingesperrt“, sagt der ukrainische Polizist.
       
       Die Sprecherin der Polizei der Region Charkiw, Olena Barannik, schließt
       nicht aus, dass die Russen auch ukrainische Kriegsgefangene illegal
       festgehalten und gefoltert hätten, da in einigen Räumlichkeiten auch
       ukrainische Uniformen gefunden worden seien. Derzeit laufen Ermittlungen,
       die Polizei ist dabei, Listen mit Namen von Opfern und Zeug*innen zu
       erstellen.
       
       Die Stadt Kupjansk ist massiv zerstört und fast menschenleer. Der
       37-jährige Bewohner Maksim war gerade bei einer Ausgabestelle für
       humanitäre Hilfe und ist jetzt auf dem Weg nach Hause. Er sei die ganze
       Zeit der Besatzung über in der Stadt gewesen, deshalb kenne er mehrere
       Personen, die in der provisorischen Haftanstalt der „Volkspolizei“
       gefoltert worden seien. Einer seiner Kameraden habe sieben Tage
       hintereinander in einem vergitterten Bereich im Hinterhof des Gebäudes
       ausharren müssen. „Sie wurden dort verspottet und standen einfach nur da,
       im Regen unter freiem Himmel. Platz zum Sitzen gab es keinen. Das Essen
       wurde ihnen hingeworfen, in eine Pfütze, wie bei Hunden“, erzählt Maksim.
       
       Er betont, dass in diesen sechs Monaten niemand habe herausfinden können,
       warum die Menschen ins Gefängnis gesperrt worden waren. Manchmal habe es
       wohl ausgereicht, wenn den Besatzern das Gesicht einer Person nicht gepasst
       habe. Und dann erzählt er noch ein interessantes Detail: So gingen in
       Kupjansk illegale Festnahmen und Folterungen von Zivilist*innen
       offensichtlich auch auf das Konto von ehemaligen ukrainischen
       Milizionären, die 2014 im Zuge einer Reform des ukrainischen
       Innenministeriums entlassen worden seien. „Das ist unser Müll. Die, die
       2014 die Überprüfung nicht überstanden haben“, erregt sich Maksim.
       
       In den Räumlichkeiten der Kupjansker Abteilung der „Volksmiliz“ wurden
       übrigens mehrere Gegenstände gefunden, die für Folterungen verwendet
       werden. Darunter war auch eine Gasmaske. Die entsprechende Methode wird
       „Elefant“ oder „Staubsauger“ genannt. Dem Gefangenen wird die Maske
       aufgesetzt, dann die Luftzufuhr unterbrochen und manchmal noch etwas
       Zigarettenqualm hineingeblasen. Das dauert in der Regel bis zur
       Bewusstlosigkeit.
       
       ## Stromschläge mit sowjetischem Feldtelefon
       
       Neben Schlägen, Schlafentzug und stundenlangem Stehen ist auch der „Anruf
       im Kreml“ beziehungsweise der „Anruf bei Putin“ sehr beliebt: Der Person
       werden Drähte angelegt – an die Ohren, Finger oder Geschlechtsteile, dann
       wird der Strom angeschaltet. Gerne auch auf feuchter Oberfläche, um die
       Kraft der Stromschläge zu erhöhen. Den Strom liefert ein Dynamo. Dafür wird
       ein sowjetisches Feldtelefon vom Typ TA-57 verwendet.
       
       Die Charkiwer Strafverfolgungsbehörden sagen, dass die Russen durch Folter
       Aussagen aus Leuten herausgeholt hätten, die diese Informationen
       theoretisch gar nicht haben konnten. Bis heute wurden in der Region Charkiw
       22 Foltereinrichtungen entdeckt und nach der Rückeroberung bereits mehr als
       600 Leichen exhumiert. Der Polizei liegen Informationen über weitere
       Massengräber in der Region vor.
       
       Aus dem Russischen: Barbara Oertel
       
       27 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ukrainische-Gegenoffensive/!5887951
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Juri Larin
       
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