URI: 
       # taz.de -- Soul-Musik aus der DDR: Wenn du allein stehst
       
       > Viel Seele, aber etwas zu putzig: Die Kompilation „hallo 22“ versammelt
       > Soul- und Funksongs aus der DDR der 1970er- und frühen 1980er-Jahre.
       
   IMG Bild: Die Sängerin Angelika Mann intonierte in Berliner Timbre, die Aufnahme entstand im Jahr 1973
       
       „Wenn ein Tag gut war / muss etwas neu sein danach“. Beginnt ein Song auf
       diese Weise, gibt er ein Versprechen. Es einzulösen, gelingt der
       Soulrock-Formation Christiane Ufholz und Lift in ihrem Titel „Wenn“ mit
       Bravour.
       
       Das Intro ist ein Gitarrenriff zwischen Blues und Hardrock, ein nervöses
       Schlagzeug, Piano und Bläsersatz kommen hinzu. Dann der kategorische Gesang
       von Ufholz: „Wenn du allein stehst / Darf deine Meinung nicht sterben.“
       
       Es ist nicht gerade klassische Rockpoesie, die der Schriftsteller Joachim
       Krause für Christiane Ufholz und Lift verfasst hat. Der Song endet mit den
       unbedingt zu beherzigenden Zeilen „Wenn du nur redest / Bekommt dein Traum
       kein Gesicht“.
       
       Sie zählen zu den Höhepunkten auf dem eben erschienenen Sampler „hallo 22“,
       einem Doppelalbum mit Funk und Soulsongs aus der DDR. Zusammengestellt
       haben es die [1][Rapper Max Herre] und Dexter, der eine Schwabe aus Berlin,
       der andere aus Ulm.
       
       ## War Pop aus der DDR besser?
       
       „Hallo 22“ zitiert im Titel eine Reihe von stilistisch weit gefächerten
       Anthologien, die zwischen 1972 und 1976 mit Musik aus der DDR und den
       Bruderländern auf dem Staatslabel Amiga erschienen waren. Ihre Auswahl
       lassen Herre und Dexter im Jahr 1971 beginnen. Zwei Jahre zuvor war in der
       BRD mit dem selbst betitelten Debüt der Nürnberger Band Ihre Kinder das
       erste deutschsprachige Rockalbum erschienen. Die über weite Strecken
       ausgesprochen lyrische Sprache der 18 Beiträge auf „hallo 22“ ist
       durchgehend deutsch.
       
       Auf diesem Gebiet stand die DDR im Systemvergleich also nicht schlecht da.
       Max Herre vertritt gar die Meinung, DDR-Popmusik der späten 1960er und 70er
       Jahre sei besser als die der BRD gewesen. [2][Auf jeden Fall hatte sie
       einige Besonderheiten], die der bis 1981 reichende „hallo 22“-Sampler auch
       verdeutlicht.
       
       ## Alles auf Soul getrimmt
       
       Tatsächlich war im Osten circa 1968, wie der Musikwissenschaftler
       [3][Michael Rauhut] in seinem Standardwerk „Beat in der Grauzone“ schreibt,
       eine Soulleidenschaft ausgebrochen, die „wahre Wogen des Enthusiasmus in
       der DDR auslöste und etliche Kapellen in ihren Strudel riss“. Eine der
       Gruppen, die Rauhut anführt, war die bis heute aktive Modern Soul Band,
       vormals das Modern Septett des Berliner Musikers Gerhard Laartz. Das
       Septett war entstanden, nachdem Laartz’ Band Music-Stromers mit
       Auftrittsverbot belegt worden war.
       
       Hatten sich die Stromers an The Who, der Spencer Davis Group und den
       Beatles der „Sgt. Pepper’s“-Phase orientiert, so bezogen sich die
       Modernisten auf Otis Redding, Aretha Franklin und den Jazzrock von Chicago.
       Im Interview mit Rauhut erinnert sich Laartz: „Wir haben damals sämtliche
       Titel auf Soul getrimmt, ob das nun eine Hendrix-Nummer war oder sonst was.
       Bläser waren obligatorisch, um diesen Soulcharakter zu haben. Ein ganz
       entscheidendes Pfund war unser Frontmann Klaus Nowodworski. Der konnte all
       die Großen imitieren und auch zelebrieren, am umwerfendsten James Brown.“
       
       ## Der Sound von „Solo Sunny“
       
       Klare Sache, dass die Modern Soul Band auf „hallo 22“ dabei ist, allerdings
       nicht mit Nowodworski, sondern der Sängerin Regine Dobberschütz. Ihr Titel
       „Nochmal klein sein“ ist eines von vielen Beispielen der Zusammenstellung,
       die sich als von Soul und Jazz beeinflusster Kunstpop umschreiben ließen.
       Das sich aufdrängende Wort Schlager trifft es nicht ganz. Dobberschütz hat
       später mit der DDR-Blueslegende Stefan Diestelmann zusammengearbeitet, ihr
       gemeinsamer „Blues von der guten Erziehung“ sollte zusammen mit „Nochmal
       klein sein“ gehört werden.
       
       Bekannt geworden ist Dobberschütz durch ihre Mitwirkung an dem
       international preisgekrönten Defa-Film „Solo Sunny“ von Konrad Wolf und
       [4][dem Anfang Oktober 2022 verstorbenen Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase].
       Dobberschütz hat im Film die Gesangsparts der von Renate Krößner gespielten
       Protagonistin übernommen. „Solo Sunny“ spielt größtenteils in
       Berlin-Prenzlauer Berg und dort in der Schönhauser Allee und ihren
       Seitenstraßen.
       
       Im Grunde ist der Sound von „hallo 22“ der des Films. Da sind die von
       Gerhard Laartz erwähnten Bläsersätze, die Flötentöne, der Jazz- und
       Funkrhythmus der Perkussion, Orgelgroove und sämtliche psychedelischen
       Klangfarben, die von der Covergestaltung aufgegriffen werden und direkt aus
       Sunnys Zimmer in einem Abrisshaus in der Malmöer Straße stammen könnten.
       
       ## „Kutte“ ist funktionaler Alkoholiker
       
       Im Beitrag der Sängerin Veronika Fischer mit dem Günther-Fischer-Quintett
       hat die Schönhauser Allee sogar einen namentlichen Auftritt. Den Typen
       namens „Kutte“, den Angelika Mann im unnachahmlichen Berliner Timbre
       porträtiert, kann man sich ebenfalls als Bewohner einer herben Ecke des
       damaligen Ost-Berlin vorstellen. „Kutte“ ist funktionaler Alkoholiker,
       seine Frau ist es, die nach langen Jahren das Schweigen darüber bricht.
       
       Gleich zweimal vertreten auf „hallo 22“ ist Sängerin Uschi Brüning.
       Begleitet von insgesamt viermal in verschiedenen Formationen agierenden
       Günther Fischer singt sie „Hochzeitsnacht“ und den tollen Eisbrecher „Wenn
       es so ist“. Uschi Brüning hat Eingang in einen Klassiker der DDR-Literatur
       gefunden. In Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ wird
       Protagonist Edgar Wibeau bei einem Auftritt der Klaus-Lenz-Band hymnisch:
       „Old Lenz und Uschi Brüning! Wenn die Frau anfing, ging ich immer kaputt.“
       
       ## Enthusiastisches Bild der Arbeit
       
       Edgar Wibeau, dem bei Uschi Brüning die Tränen kommen, ist abgebrochener
       Berufsschüler des Volkseigenen Betriebs (VEB) Hydraulik Mittenberg. Es gibt
       auf „hallo 22“ einen Song, in dem die DDR-Arbeitswelt selbst zum Thema
       wird, es ist die Rundfunkproduktion des Joco-Dev-Sextetts „Stapellauf“,
       harter Progrock mit irrlichternder Orgel und Sprechgesangssektion.
       
       Den Text hatte der Fernsehregisseur und Rocktexter Bernd Maywald
       geschrieben. Er feiert nicht ohne Pathos die industrielle Arbeit, ihren
       Kollektivgeist und die darin liegende Utopie: „Neue Schiffe – Stapellauf /
       Arbeit, Monate davor / Er geht niemals von allein / Und dann sind es
       Sekunden nur / Davor, Monate davor / Jahre dann, Jahre Fahrt danach / Eben,
       eben noch ein Ziel / Anfang, Anfang ist er schon.“ Ein enthusiastisches
       Bild der Arbeit, anders als das, welches ungefähr zur selben Zeit in
       Westdeutschland Ihre Kinder im Song „Graue Stadt“ zeichnen.
       
       ## Manfred Krug und Frank Schöbel
       
       Joco Dev, Lift, Angelika Mann oder der mehrteilige, an den Polen Czesław
       Niemen erinnernde Prog Funk von Electra sind die rockigen, durchaus
       schroffen Beiträge auf „hallo 22“.
       
       Es hätten ihrer mehr sein können. Bei Manfred Krug und Frank Schöbel
       verlässt sich die Kompilation zu sehr auf Hits, an anderen könnte der
       Eindruck entstehen, eigentlich sei es in der DDR ganz putzig zugegangen.
       Dabei wird der Texter von Christiane Ufholz und Lift, Joachim Krause,
       übrigens wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Zentralstelle für
       Korrosionsschutz in Dresden, seine Gründe gehabt haben, warum er sich ab
       den späten Siebzigern in der kirchlichen Umweltbewegung engagierte und ein
       Theologiestudium absolvierte.
       
       Ein Extrabienchen gibt es hingegen für die Layout-Entscheidung, die die
       damalige Gestaltung der Etiketten übernimmt, bis hin zu jenem Weinrot, das
       Amiga von 1968 bis 1981 verwendet hat. Und zu guter Letzt: „hallo 22“ kommt
       genau richtig in einem Jahr, da ein Theaterprogramm in seinem Titel die im
       besten Fall verunglückte Frage stellt „Wie macht man gute Kunst für
       Ostdeutsche?“ Es gibt sie längst. Dieses Doppelalbum bietet einen
       Querschnitt und Einstieg.
       
       5 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neues-von-HipHop-Produzent-Farhot/!5746121
   DIR [2] /Afroamerikanische-Saengerin-in-der-DDR/!5350315
   DIR [3] /Archiv-Suche/!5351337&s=Manfred+Krug&SuchRahmen=Print/
   DIR [4] /Nachruf-auf-Wolfgang-Kohlhaase/!5886213
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Mießner
       
       ## TAGS
       
   DIR DDR
   DIR Soul
   DIR Funk
   DIR Pop
   DIR DDR
   DIR Jazz
   DIR Free Jazz
   DIR taz Plan
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Musik
   DIR Punk
   DIR Deutsche Einheit
   DIR Kollegah
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Nachruf auf Bert Papenfuß: „ich such das meuterland“
       
       Ende eines entschlossenen Lebens: Der Berliner Undergrounddichter Bert
       Papenfuß ist gestorben. Er hinterlässt seine Frau, Kinder und Leser.
       
   DIR Jazz in der DDR: Frei spielen, wie im Wald
       
       Freejazz erlebte im Osten eine eigene Geschichte. Mittendrin waren der
       Posaunist Conny Bauer und der Drummer Günter „Baby“ Sommer.
       
   DIR Nachruf auf Jazzpionier E.L. Petrowsky: Der Michael Jordan des Jazz
       
       Ernst-Ludwig Petrowsky ist tot.Der große Saxofonist war einer der Begründer
       des Jazz in der DDR. Er nahm mehr als 100 Alben auf und tourte im Westen.
       
   DIR Neue Musik aus Berlin: Stetig gehämmert
       
       Für sein neues Album „Good Morning“ hat Alexander Markvarts seine
       Akustikgitarre unter anderem in einem Swimmingpool eingespielt. Das klingt
       Hammer.
       
   DIR Festival für kosmische Klänge: Die Zukunft trägt gern Weiß
       
       Beim „Cosmic Awakening“ im Haus der Kulturen der Welt scheute man keine
       Visionen. Als Festival der utopischen Klänge hörte man sich in der Zukunft
       um.
       
   DIR Jazzfest Berlin 2022: Den Urknall nacherzählen
       
       Was für eine musikalische Reise! Von einer Feuerlöscher-Ouvertüre bis in
       die Tiefen der Ozeane reichte sie im diesjährigen Berliner Jazzfest.
       
   DIR Konzert mit Ostpunkbands in Berlin: Bierdusche für die Discokugel
       
       Mit zwei Jahren Verspätung feierten Ostpunkbands von Betonromantik bis
       L’Attentat die Wiederauflage ihrer Musik aus DDR-Zeiten.
       
   DIR Punk – Rebellion gegen den Stasistaat: Vorwärts, vorwärts, nie zurück
       
       Punk wurde in der DDR nicht verstanden, aber brutal verfolgt. Die
       Kompilation „too much future“ zeigt, wie sich die SED ihr eigenes Grab
       schaufelte.
       
   DIR Max Herre und sein Album „Athen“: Doppelte Buchführung
       
       Gegenentwurf zum Macker-HipHop: Max Herre hat mit „Athen“ ein neues Album
       veröffentlicht und erklärt, wie er es mit Kollegen und Kollegah hält.