# taz.de -- Solidarität mit Protestierenden in Iran: Da muss mehr gehen
> Ja, im Oktober waren beeindruckende 80.000 Menschen in Berlin auf der
> Straße. Doch es braucht noch mehr Solidarität.
IMG Bild: Solidarischer Protest am Großen Stern in Berlin
Die iranische Jugend streckt den Ayatollahs todesmutig den Mittelfinger
entgegen. Und was machen wir? Wir zeigen dieser Jugend und ihren
Unterstützern* unseren eigenen. Aber ja, im Oktober waren beeindruckende
80.000 Menschen [1][in Berlin auf der Straße]. Seitdem folgen weitere
Kundgebungen, Mahnwachen und kreative Protestaktionen, immer mit dem Slogan
„[2][Jin, Jiyan, Azadi“] (auf Deutsch: „Frau, Freiheit, Leben“). Come on,
wer dabei war, weiß, der Großteil hat einen iranischen Background, zur
Massendemo kamen sie aus ganz Europa. Also machen wir uns nichts vor, da
geht noch mehr. Da muss mehr gehen. Lassen wir sie nicht allein!
Ohne jeden Zweifel: Der Support aus Teilen der Zivilgesellschaft, besonders
aus Kunst, Kultur und Unterhaltung, ist episch, wahrscheinlich einzigartig,
gerade deshalb braucht es mehr.
Nicht an deren Stelle, sondern als Reaktionsbeschleuniger. Im Angesicht des
iranischen Regimes mit seiner Niedertracht und der rapide wachsenden
Bereitschaft für Hinrichtungen droht die Wirkung der bisherigen Solidarität
zu verpuffen. Und, nun ja, im Angesicht der verstörenden Apathie unserer
eigenen Regierung ebenso. Da könnte ein zahlenmäßiger Multi-Wumms von der
analogen wie auch digitalen Straße aufrütteln. Es braucht die Massen,
dauerhaft und wiederkehrend.
Experten mit iranischem Hintergrund, Exilant:innen, Menschen mit
Angehörigen vor Ort, erzählen, solch eine revolutionäre Wucht habe es in
den vergangenen 40 Jahren nicht gegeben. Es sei ein noch nie dagewesener
gesellschaftlicher Schulterschluss, selbst Konservative verlören die
Geduld. Zur Erinnerung: Wir sprechen von einem menschenverachtenden Regime
im Namen des Allmächtigen. Hier geraten die Fundamente eines
selbsternannten Gottesstaates mit globalen Tentakeln ins Wanken.
Eigentlich der feuchte Traum aller „Islamkritik“, die natürlich nichts
gegen Muslim:innen haben will, sondern nur etwas gegen Feinde der
(Meinungs-)Freiheit. Eure Chance, das endlich mal zu beweisen. Wo bleiben
die auflagenstarken Autor:innen samt Anhängerschaft und ihr
solidarischer Aufruf für die Iran-Proteste? Lediglich Henryk Broder äußert
sich wiederholt und klar, wenn auch zum Teil lachhaft. Die Proteste dieses
Ausmaßes hätten selbst Fachleute nicht für möglich gehalten, behauptet er.
Check your experts, mate!
## Vom Volke aus
Hier könnte das passieren, was sie echten und sogenannten Muslimen in der
üblichen infantil paternalistischen Art (ja, diesen Widerspruch bekommen
sie hin!) abverlangen: Im Iran geht der Aufstand vom Volk aus. Es gibt die
Chance, eine Ideologie loszuwerden, die Israel von der Landkarte tilgen
will, die Terror finanziert. Eine Staatsideologie, die als Regionalmacht
Einfluss – eher Ausfluss – auf etliche Länder hat, dessen Folgen weltweit
reichen.
Und spannend ist auch: Diejenigen, die die Mullahs erzürnen, sind in der
Hauptsache keine Ideologen, keine stalinistischen Betonköpfe, Nostalgiker
des Schahs oder Wegbereiter:innen eines pseudodemokratischen
„Persiens“ neoliberaler Prägung. Es ist die oft bemühte Gen Z.
Und wo seid ihr alle? Wo ist Facebooks „Free Iran“ fürs Profilbild? Wo sind
die säkularen Muslim:innen, meine Brüder und Schwestern* im Geiste? Wo die
selbstvermarkteten Ex-Muslim:innen, wo die Atheisten? Wo das versammelte
Antideutschtum? Leute, stellt euch einen säkularen Iran vor. Hamdulillah!
Bleibt noch der Elefant im Raum: Realpolitik ist interessengeleitet, aber
wer definiert die Interessen, wer sagt, es dürften nur wirtschaftliche
sein? Was Interessen eines Landes sind, formuliert jeder und jede einzelne
von uns mit. Seien wir doch mal ehrlich, der Elefant im Raum ist gar nicht
mal so selten ein Elefant im Porzellanladen. Jin, Jiyan, Azadi!
11 Nov 2022
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## AUTOREN
DIR Bobby Rafiq
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