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       # taz.de -- Verfrühte Weihnachten: Wenn der Glühwein dreht
       
       > Der erste Hamburger Weihnachtsmarkt hat schon längst geöffnet. Er steht
       > im Stadtteil Wandsbek und muss sich zur Tarnung Winterzauber nennen.
       
   IMG Bild: Kann zum Problem werden: Glühwein auf Weihnachtsmärkten
       
       Hamburg taz | Der Weg zum ersten Hamburger Weihnachtsmarkt der Saison führt
       durch die [1][Wandsbeker Chaussee] im Osten der Stadt, wo Hamburg nicht
       mehr chic ist. Links tost sechsspurig der Verkehr, rechts reihen sich
       türkische Bäckereien, Friseure und Ein-Euro-Shops, beschützt von einem
       durchsichtigen Dach, das wohl Arkadenfeeling verleihen soll. Und weil es so
       schön ist, sind die Grabbeltische vor den Geschäften voll mit:
       Nikolausmützen, Tannenzweigdeko, Lichterketten.
       
       Es ist ein milder Herbsttag, die Blätter sind noch auf den Bäumen, und für
       irgendwas mit Weihnachten ist die Zeit noch gar nicht reif. Aber dort
       hinten, auf der großen Verkehrsinsel, sind die Zeichen dann eindeutig:
       „Wandsbeker Winterzauber“ steht über dem großen Holztor, das den Eingang
       markiert und in dessen Inneren hinter Butzenglasscheiben Lichter leuchten.
       
       16 Uhr, es ist die Zeit der Mütter, die mit Kinderwagen jeder Größe durch
       das Tor zum Karussell streben, das gleich dahinter aufgebaut ist und alles
       hat, was ein Karussell haben muss: altmodische Feuerwehrautos, Motorräder,
       auch die Polizei ist vertreten. Die Mütter filmen mit ihren Handys die
       Kinder, während diese ernst und gewissenhaft in ihren Gefährten sitzen.
       
       Die Stimmung am Karussell ist gedämpft. Es glitzert und leuchtet zwar, aber
       die Geräusche des Verkehrs übertönen die Musik, die aus den Lautsprechern
       kommt. Hinter dem Karussell ist noch nicht viel los, an den Bratwurstbuden
       stehen die Bedienungen und langweilen sich, ebenso die beiden jungen Frauen
       am Punschstand. Das Nikolaushaus mit dem Briefkasten für die Wünsche ist
       noch leer, aber daneben, in der „Almhütte“, stehen schon zwei junge Männer
       mit Tirolerhüten am Außentresen.
       
       ## Schaustellerfamilie Pluschies
       
       Im Inneren öffnet sich im Halbdunkel ein Raum, der vollgestellt ist mit
       Alpennippes. Zwischen den Dachbalken hängen Wäscheleinen, schwere
       Wirtshaustische warten auf die Gäste, die noch nicht da sind, wohl aber die
       Wirtsleute. Sie sitzen am Tisch neben dem Tresen, er mit Hut und
       Winterjacke, sie im Alpenjanker. Es sind Manfred und Carla Pluschies, die
       Betreiber des Wandsbeker Weihnachtsmarkts, der eigentlich noch gar kein
       Weihnachtsmarkt sein darf, denn Weihnachtsmärkte sind in Hamburg erst in
       der Woche vor dem ersten Advent erlaubt.
       
       Das sei der Grund, warum der Markt „Winterzauber“ heißt, sagt Manfred
       Pluschies. „Wenn es soweit ist, stellen wir in der Mitte einen Tannenbaum
       auf.“ Der Winterzauber wird dann zum Weihnachtsmarkt.
       
       Wie viele Weihnachtsmarktbetreiber sind auch die Pluschies eine
       Schaustellerfamilie, auf dem Hamburger Dom sind sie mit dem „[2][Rotor]“
       vertreten, einem Fahrgeschäft, das sich so schnell dreht, dass die Menschen
       an den Wänden kleben bleiben und sich der Boden wegziehen lässt.
       
       Doch obwohl gerade auf St. Pauli [3][Winterdom] ist, sind die Pluschies
       hier in Wandsbek. „Für uns Schausteller sind die Weihnachtsmärkte im Winter
       zur wichtigsten Einnahmequelle geworden“, sagt Manfred Pluschies, während
       seine Frau einen Kaffee bringt. Die Tochter sitzt an einem Tisch im
       Hintergrund und poliert Biergläser, auch sie ist alpenmäßig mit einer
       Edelweißjoppe bekleidet.
       
       Draußen ist es schon dunkler geworden, die LED-Lichterketten leuchten, und
       an den Holzfässern, die als Stehtische dienen, trinken die ersten ihren
       Glühwein. Kalt ist es immer noch nicht. Ganz hinten in der Ecke steht eine
       kleine Eisbahn ohne Eis: der Boden ist aus glattem Kunststoff, die
       Schlittschuhe gleiten darauf ein paar Zentimeter. Um auf Geschwindigkeit zu
       kommen, kann man mit den Schlittschuhen eine Rampe hinunterschlittern.
       
       Es ist 17 Uhr, die Tasse mit dem Glühwein aus der „Eisbar“ ist warm, doch
       nicht jeder verträgt Alkohol am Nachmittag. Da hinten, auf dem kahlen Baum,
       sind das nicht Schneeflocken? Die Kinder aus dem Karussell fahren über die
       Eisbahn. Irgendwo in der Luft hängen Schlittschuhe. Es weihnachtet sehr.
       
       18 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Im-Dunst-der-Wasserpfeifen/!5564100
   DIR [2] http://www.original-rotor.de/
   DIR [3] https://www.hamburg.de/dom/2611800/aktuelles-hamburger-dom/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Wiese
       
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