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       # taz.de -- Buch „Zeit der Landschaft“: Natur zum Abheben
       
       > Jacques Rancière widmet sich in „Zeit der Landschaft“ der Natur im 18.
       > Jahrhundert. Sie war Ressource für Vorstellungen von Unendlichkeit.
       
   IMG Bild: Was geschieht hinter dem Felsen? Landschaftsbild von William Gilpin, um 1746
       
       Natur? Das ist jetzt also das „Erdsystem“: geschlossen, selbstregulierend,
       zusammengesetzt aus physikalischen, chemischen, biologischen und
       „menschlichen Komponenten“. So die Experten vom International
       Geosphere-Biosphere Programme. Diese Natur ist begrenzt, zugänglich
       allenfalls über Modellrechnungen, und sie ist gefährdet.
       
       Es war nur eine kurze Weile, dass man Natur betrachten konnte und sie gar
       ein Gefühl der Unermesslichkeit bescherte. „Wie sehr erweitert sich nicht
       die ganze Seele, spannet alle ihre Kräfte an, wenn sich die Aussicht auf
       den Ocean voraus eröffnet“, zitiert Jacques Rancière in seinem großartigen
       neuen Buch, das jetzt auf Deutsch erschienen ist, den Gartentheoriker
       Christian Cay Lorenz Hirschfeld.
       
       Ein Zeitgenosse aus dem späten 18. Jahrhundert, der über dem Neuenburgersee
       die Illusion erfährt, Himmel und See seien spiegelgleich, meinte gar, „im
       unermeßlichen Raum auf einem kleinen Trabanten“ herumzuschweben.
       Naturbetrachtung als Raumfahrt. Heute erinnert uns Natur daran, dass wir
       über unsere Verhältnisse leben. Damals verhalf sie dazu, sich über die
       eigenen Verhältnisse zu erheben.
       
       Der französische Philosoph [1][Jacques Rancière ist bekannt für seine
       fortgesetzten Überlegungen zur Verbindung von Ästhetik und Politik].
       Angesichts der heutigen Politisierung der Natur kommt es einem Schock
       gleich, wenn Ranciére, Jahrgang 1940, in „Zeit der Landschaft“ zeigt, dass
       die Ästhetisierung der Natur im 18. Jahrhundert auf entgegengesetzte Weise
       politisieren konnte. Natur konfrontierte niemanden mit seinen materiellen
       Lebensbedingungen, sondern löste von ihnen.
       
       ## Mistkarren, Tierkadaver, schmutzige Arbeiter
       
       Was aber bewog die [2][Maler dazu, in ihren erhabenen Landschaften] auf
       einmal Niederrangiges auftauchen zu lassen? Die bescheidenen Hütten des
       einfachen Volks, Mistkarren, Tierkadaver, schmutzige Arbeiter? Man musste
       nicht mehr mit beeindruckenden Sujets prunken, antwortet darauf Rancière,
       es gab eine bessere Weise zu beeindrucken. Man konnte die „Kraft“ malen.
       
       In dem Unscheinbaren auf den Gemälden bekundet sich die Einheit einer Natur
       „in einem bestimmten Rahmen, über den ihre Kraft aber zugleich
       hinausreicht. Der Künstler spürt diese Kraft und macht sie spürbar.“
       
       Entscheidend für die Darstellung dieser ominösen Kraft ist ein
       maltechnischer Kunstgriff, dem Rancière ein eigenes, brillantes Kapitel
       widmet. Maler wie der englische William Gilpin begreifen: Eine Landschaft,
       die in ihrer Vollständigkeit daläge, böte der Einbildungskraft keinen Raum.
       Gleiches gilt für eine umschlossene Landschaft. Man wird deshalb eine
       Landschaftsgrenze malen, sie allerdings zum Teil verbergen. Eine Seegrenze
       ist dann stellenweise uneinsehbar, etwa wegen eines hervorspringenden
       Waldstückchens, dahinter könnte der See weitergehen.
       
       „Es ist nun nicht mehr die Landschaft, die weiter wirkt, als sie es
       tatsächlich ist“, schreibt Rancière, „vielmehr wird der Geist selbst
       erweitert.“ Weil sie beflügelten, konnte man diese Landschaftsbilder sogar
       für das einfache Volk öffnen. Für Rancière hat dies bemerkenswerte
       politische Implikationen. Denn waren sogar arbeitende und zerlumpte Leute
       auf einmal würdig, sich auf Gemälden zu tummeln, so vielleicht auch auf der
       politischen Bühne!
       
       Doch in einem anderen Moment misstraut Rancière seiner eigenen
       Interpretation: „Die Abstufungen der [3][Gesellschaftsordnungen werden zu
       den Abstufungen des Lichts auf der Leinwand]. Die Verschleierung der
       Ungleichheit im Erscheinungsbild der Gemeinschaft wird wie das Verbergen
       der Ränder eines Sees oder der Ursprung eines Wasserfalls behandelt, durch
       das eine begrenzte Landschaft ihre imaginäre Weite enthält.“
       
       Das ist die unaufgelöste Spannung des Buchs: Die Ungeachteten können auf
       den Gemälden des 18. Jahrhunderts in Erscheinung treten, aber sind zugleich
       versteinert, gebannt in lediglich imaginärer Weite.
       
       14 Nov 2022
       
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       ## AUTOREN
       
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