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       # taz.de -- „Live at the Bon Soir“: Sie hatte keine Chance, aber sie nutzte sie
       
       > Seit den Sechzigern stieg Barbra Streisand zu einem Monument der
       > Popkultur auf. Nun wurde nach 60 Jahren ihr erstes Albumprojekt
       > veröffentlicht.
       
   IMG Bild: Barbara Streisand, Aufnahme aus dem Jahr1962
       
       Das Intro der nun veröffentlichten ersten Liveaufnahme dieser Künstlerin
       hat schon alles, das einen fantasieren lässt: Ah, klar, klingt das
       bezaubernd! In der ersten Minute nämlich stellt der Mann der Plattenfirma
       sie vor: „Barbara Streizand …“ Und aus dem Hintergrund ist sofort zu hören,
       von ihr: „Streisand“. Also dass das s in ihrem Familiennamen nicht weich
       gesprochen wird, sondern, wie betont, fast zackig. [1][Wie sie, eben
       Barbara Streisand] – das zweite a ihres Vornamens lässt sie erst später
       streichen, es spricht ohnehin niemand aus – den Conferencier korrigiert.
       Nicht laut, teenagerhaft-rechthaberisch.
       
       Eher knapp, smart: die allerletzte Unebenheit vor ihrer wirklichen
       Performance ausbügelnd. Aus der Perspektive der damaligen Zukunft, von
       heute aus, hörte sich das wie eine Anmaßung an: Heute ein Gebirge an
       Legendenhaftigkeit, berühmt ihrer Filme und Musiken wegen, ein Monument der
       Popkultur seit eben den frühen Sechzigern, aber im September 1960? Sacht
       eher, aber deutlich: „Streisand!“
       
       Denn wer war sie denn schon? 18 Jahre, eine junge Frau aus Brooklyn,
       aufgewachsen in einer tief gläubigen Familie, dessen Vater starb, als sie
       sehr jung war, ein (allerdings in der Schule fleißiges) Straßenkind in
       jeder Hinsicht mit einem Leben, das mit dem Wort „multikulturell“ eher
       blass beschrieben ist. Alles mischte sich in diesem Teil von New York City,
       den Aufstieg vielleicht sogar bis zu einem Job im gegenüberliegenden
       Manhattan träumend. Sie jüdisch, ihre beste Freundin christlich, das Leben
       war rau, so what? – aber sie hatte Träume. Schauspielerin zu werden, aber,
       nun ja, die Mutter hätte es lieber gesehen, wenn ihre Tochter irgendwo als
       Sekretärin untergekommen wäre, solide und überschaubar, nichts mit
       biografischem Risiko. Und überhaupt: Bei deinem Aussehen?
       
       Barbra Streisand hatte nichts von dem, was Stars jener Zeit – und fast
       aller späteren Zeiten – zu zeigen hatten: schlank und rank, nicht dürr wie
       sie; eine nicht zu große Nase – wie sie sie hat – und sowieso keine
       Augenstellung, die den anderen, so hieß das damals, einen Silberblick
       erkennen lässt. Sie war nicht schön nach Gusto der Musicalindustrie am
       Broadway, nicht von der rehäugigen Schüchternheit, wie sie Audrey Hepburn
       in ihrer Aura eigen war. Außerdem, räusper, hüstel, betretend schweigend:
       Sie war, kurz gesagt, zu jüdisch – was auch immer das im Detail bedeuten
       mochte.
       
       Sie hatte diese gewisse Ironie, auch sich über sich selbst lustig zu
       machen, gern auch in Zwiesprache mit ihren Bandmitgliedern, eine Kumpelin,
       die doch immer Königin ihres ästhetischen Imperiums war und wurde: War es
       auch das, diese gewisse Selbstbestimmtheit, diese Persönlichkeit, die nicht
       auf zu singende Ware wartet, sondern sich das musikalische Material selbst
       zubereitet, eigenmächtig?
       
       ## Kräftige Stimme
       
       Ob sie sich von diesen recht miesen Startaussichten niederpressen ließ?
       Offenbar nicht. Im wirklich informativen Booklet ihrer nun dank neuer
       technischer Möglichkeiten allerersten Sessions als Sängerin ist von dieser
       Wand, vor der sie als angehende Schauspielerin steht, nichts zu spüren.
       Singen, das war ohnehin nur die zweite Option, die erste war die
       Schauspielbühne, „aber man hat mich nicht gewollt“. Ließ sie sich deshalb
       entmutigen? Ms [2][Streisand wusste ja, dass sie eine kräftige Stimme hat],
       sie sang alles, was ihr als Kind und Jugendliche aus dem Radio, aus den
       Fenstern der Häuser und Geschäfte entgegenquoll, nach, die
       Broadwayklassiker, Werbejingles, Standards ihrer Zeit, gern in hohen
       Hausfluren, da habe es besonders schön gehallt, gab sie im Gespräch neulich
       dem Guardian zu Protokoll.
       
       Im „Bon Soir“, einem leicht gediegeneren Nachtclub in Manhattan, genauer
       gesagt in Greenwich Village, der wichtigsten Echokammer der nahenden
       Popkultur, für Bob Dylan, Joni Mitchell, Simon & Garfunkel oder Joan Baez
       war dieses Viertel die Premier League Area ihrer ersten Jahre, Ella
       Fitzgerald, Louis Armstrong oder Sarah Vaughn war es ein Catwalk – ein
       Hippie- und Hipsterquartier, wo ja auch das Stonewall Inn liegt, die
       Kneipe, aus der heraus die Riots der Schwulen und Lesben und trans Menschen
       begannen, 1969 … in dieser Gegend kam sie zu diesen Auftritten.
       
       Aus wenigen Vorstellungen wurden ausverkaufte Wochen, die Streisand war der
       hot shit (nicht nur) dieser Saison. Dass die Aufnahmen gegen erste
       Absichten nicht veröffentlicht worden waren, lag an den technischen
       Unzulänglichkeiten des Clubs selbst. Die Umkleidekabine – die Toilette, die
       Tische gedrängt, der Abstand zur Bühne minimal, die Boxen hingen so, dass
       niemand sich den Kopf einschlagen konnte: Columbia und die Streisand
       entschieden sich, diese Aufnahmen nicht als Debüt zu veröffentlichen. Mehr
       als 60 Jahre lang sie im Tresor der Künstlerin selbst zu lassen. Sie hatte
       immer gern Kontrolle über alles, sowieso das, was sie betrifft. (Auch wenn
       dieser Perfektionsanspruch ihren Mann James Brolin, liiert mit ihm seit
       1998, vor einiger Zeit so in den Wahnsinn trieb, dass er eine Eheberatung
       für sie beide durchsetzte.)
       
       24 Lieder sind auf dem „Bon Soir“-Album nun erschienen, alle sind sie
       während einer ihrer Livesession gesungen worden, delikat zubereitet vom
       Toningenieur Jochem van der Saag, der aus dem Soundmulsch ein Produkt für
       moderne Hörgewohnheiten filterte. Klavier, Gitarre, Schlagzeug, Bass –
       darüber die klare, und man muss es sagen: mächtige, in der Tat in jeder
       Hinsicht nicht der Technik bedürftigen Stimme der Streisand. Jeder Ton
       sitzt, jede Phrasierung, die sie sich in der Hundertstelsekunde des Moments
       ausdenkt, astrein. Und das ohne je eine Gesangsstunde, irgendeine Atemübung
       absolviert zu haben.
       
       ## Der Rest ist Geschichte
       
       Hier auf dem „Bon Soir“-Album ist sie auch zu hören, die erste
       Liveeinspielung des Comedian-Harmonist-Klassikers „Wochenend und
       Sonnenschein“, aber hier, in der Version der Streisand, getragener, viel
       langsamer, ohne jeden Happy-Go-Lucky-Feierabend-Appeal, das [3][Stück
       „Happy Days Are Here Again“] – das ist die Hymne der Demokratischen Partei
       der USA geworden, die Glücksverheißung für die Zukunft. Die Streisand –
       hier wie im [4][Arthur-Hamilton-Song „Cry Me A River“] – macht aus dieser
       schlichten Komposition einen gleißenden Regenbogen an Tonalität: Das Mikro,
       so viel wird beim Hören klar – braucht sie nicht wirklich, ihre Stimme hat
       das Technische nur nötig, um noch feiner zu modulieren, das heißt, zu
       zeigen, was sie ohnehin draufhat.
       
       Der Rest, also alles, was danach kam, ist Geschichte. Broadway-Triumphe,
       abermillionenfach verkaufte Schallplatten, Chartspräsenz, wo sich auch die
       Neuen der Zeit, die „Beatles“ etwa, tummelten, die Filme wie „Is’ was,
       Doc?“ (ihr bester, sowieso), „The Way We Were“, „Yentl“, „Herr der
       Gezeiten“, ihr Kampf für jeden demokratischen Kandidaten bei Wahlen, ihre
       Stiftungen für buchstäblich nur gute Zwecke, aktuell vieles zur Klimakrise,
       ihre Abscheu vor Politiken wie die Donald Trumps.
       
       Aus dem, wie sie selbst einmal sich aus dem Blick anderer nannte,
       „hässlichen Entchen“ wurde eben sie: eine Frau, deren Mutter zuletzt, aber
       nicht zuerst an sie glaubte, dafür aber sie selbst und ihre Fähigkeit,
       Berufliches bis zum letzten Detail ernstzunehmen.
       
       Sie ist natürlich eine Ikone längst. Ruheständlerin? Eher nicht so. Wer sie
       kennenlernen möchte, heutig: Im Carpool Karaoke mit James Corden ist sie
       wie immer – stimmlich auf der Höhe, die Nägel (sie hatte immer ein Faible
       für Nails) bemerkenswert, die Stimme klasse. Immer noch ein quirliges,
       smartes Geschöpf an Eigensinn und Humor. Auf den Clubaufnahmen ist quasi
       die zu hören: Sie hatte keine Chance, aber sie nutzte sie. Großartiges
       Dokument!
       
       24 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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