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       # taz.de -- Material aus Strafgefangenen-Lagern: Ikea made in Belarus
       
       > Der Ikea-Konzern bezog jahrelang Material von Zulieferern, bei denen in
       > der Produktion Zwangsarbeiter in Strafgefangenen-Lagern eingesetzt
       > werden.
       
   IMG Bild: Satellitenaufnahme des belarussischen Arbeitslagers Rypp 5
       
       Das Bücherregal „Baggebo“, die Kommode „Kullen“ oder das Bett „Brimnes“.
       Viele der Verkaufsschlager des Möbelriesen Ikea haben eines gemeinsam: Bis
       zum Beginn des Krieges in der Ukraine wurden sie in einer der schlimmsten
       Diktaturen der Welt hergestellt, in Belarus.
       
       Im Auftrag der [1][französischen Online-Zeitung Disclose] haben Mitglieder
       des investigativen Journalisten-Kollektivs We Report monatelang zu Ikeas
       Geschäften in Belarus recherchiert. Nun präsentiert Disclose die Ergebnisse
       gemeinsam mit diversen europäischen Partnermedien, darunter die taz. Nach
       dem Durchforsten von Hunderten Dokumenten und Interviews mit Dutzenden
       Zeugen kann nun eines der bestgehüteten Geheimnisse des gelb-blauen Riesen
       enthüllt werden: Das Unternehmen bezog Materialien, bei deren Herstellung
       Zwangsarbeit belarussischer Häftlinge zum Einsatz kam.
       
       Tatsächlich bezogen die belarussischen Geschäftspartner des multinationalen
       Unternehmens unter anderem Holz, Vorprodukte wie Spanplatten, aber auch
       Möbel aus den Gefängnissen des Landes. Das geht aus Dokumenten hervor, die
       Disclose und seinen Partnern vorliegen. Konkret handelt es sich in vielen
       Fällen um Schuldnerlisten, die von den belarussischen Strafkolonien auf
       ihren Internetseiten veröffentlicht wurden. Unglaublich aber wahr, und für
       Ikea umso belastender: Die belarussischen Knast-Konzerne machen aus ihren
       Geschäftsaktivitäten kein Geheimnis.
       
       Den Recherchen zufolge unterhielt etwa die Hälfte der großen belarussischen
       Ikea-Zulieferer in den letzten zehn Jahren Verbindungen zu Strafkolonien,
       für insgesamt zehn Unternehmen lässt sich eine solche Zusammenarbeit
       explizit nachweisen. Es handelt sich dabei um brutale Zwangsarbeitslager,
       die für Misshandlungen, Folter und das Verschwinden von Menschen bekannt
       sind und deren Werte im krassen Gegensatz stehen zu den von der
       schwedischen Firma propagierten Philosophie. In seinem Lastenheft
       versichert der Möbelriese seinen Kunden schließlich, dass er bei der
       Produktion seiner Waren weder auf „Zwangsarbeit“ noch auf „Gefängnisarbeit“
       zurückgreift.
       
       Ikea sollte wohl besser die Herkunft der Waren überprüfen, die unter dem
       Etikett „Made in Belarus“ verkauft worden sind. Insbesondere in seinen
       europäischen Filialen. Als Disclose im März eine Ikea-Filiale im
       ostfranzösischen Metz besuchte und einige Monate später in Straßburg und
       Leuna in Deutschland, stellte sie fest, dass in den Regalen nach wie vor
       belarussische Möbel zu finden waren, die möglicherweise mit der
       Zwangsarbeit belarussischer Gefangener in Verbindung gebracht werden
       können.
       
       Ikeas Zusammenarbeit mit Belarus beginnt offiziell im Jahr 1999. Damals
       wurde die Schweizer Firma Ikea Trading SA beauftragt, sich fortan um die
       Entwicklung des Geschäfts in dem Land zu kümmern, das bereits damals von
       Alexander Lukaschenko regiert wurde, dem letzten Autokraten Europas und
       Bündnispartner Putins bis in den Ukrainekrieg. Im Jahr 2007 wurde dann in
       den Niederlanden ein weiteres, fast unsichtbares Unternehmen gegründet:
       Ingka Belarus BV, die belarussische Tochtergesellschaft von Ingka, dem
       Logistikzweig des schwedischen Konzerns.
       
       In den zwanzig Jahren nach 1999 wurde der belarussische Staat, der nahezu
       100 % der Wälder des Landes besitzt, nach Polen zum zweitgrößten
       Holzlieferanten des Möbel-Multis. Und einer seiner Billig-Lieferanten. „Go
       Belarus“ hieß die Strategie, die es dem multinationalen Konzern ermöglicht
       hätte, seine Einkäufe vor Ort zu verdreifachen, von 130 Millionen Euro an
       Aufträgen im Jahr 2018 auf 300 Millionen Euro im Jahr 2021, wie die
       staatliche Nachrichtenagentur berichtet. Die immer weiter zunehmende
       Unterdrückung der belarussischen Bevölkerung und die Brutalität eines
       Regimes, das seine zum Tode Verurteilten mit Kopfschüssen hinrichtet,
       führten dabei zu keinem Wandel bei Ikea.
       
       Unter den langjährigen Partnern von Ikea, die besonders eng mit dem
       belarussischen Gefängnissystem zusammenarbeiten, konnte Disclose das
       Textilunternehmen Mogotex ausmachen. Das Unternehmen mit Sitz in Mogilev,
       einer Indus-triestadt im Osten des Landes, nähte Produkte für Ikea,
       darunter Tischdecken, Vorhänge und Handtücher. Den Recherchen von Disclose
       zufolge soll Mogotex mit mindestens vier Strafkolonien zusammengearbeitet
       haben.
       
       Aus einer Schuldnerliste geht hervor, dass Mogotex noch im Sommer 2021 mit
       dem Arbeitslager IK-15 kooperiert haben soll. „IK-15 ist ein Ort des
       absoluten Horrors, wo Lukaschenkos Henker schalten und walten, wie sie
       wollen“, sagt Tsikhan Kliukach gegenüber Disclose. Der 19-Jährige war dort
       zehn Monate lang eingesperrt, zwischen Mai 2021 und März 2022, wie auch
       NGOs bestätigen. Das Verbrechen des jungen Mannes? Er hatte in Minsk an
       einer Demonstration gegen die Regierung teilgenommen.
       
       Nach Kliukachs Angaben werden die politischen Gefangenen in dieser
       Strafkolonie besonders hart angegangen: „Viele politische Gefangene wurden
       geschlagen, mich eingeschlossen. Uns wurden Pakete, das Recht auf
       Korrespondenz und Besuche verweigert. Viele von uns landeten in einer
       Einzelzelle. Ich verbrachte dort insgesamt 55 Tage“, berichtet Zikhan
       Kliukach und erklärt, dass Häftlinge, die aus ideologischen oder
       politischen Gründen inhaftiert waren, „einen gelben Aufnäher auf der Brust
       tragen mussten“. Im Oktober listete die belarussische NGO Viasna 94
       „beschäftigte“ politische Gefangene im Gefängnis IK-15 auf.
       
       Zikhan Kliukach sagt, er wusste nicht, für welche Unternehmen in der
       Gefängnis-Fabrik IK-15 produziert wurde. Dass auch Ikea dazugehörte, würde
       ihn nicht überraschen. „Es gab Gerüchte, dass die Produkte aus der Kolonie
       nach Europa exportiert wurden“, erinnert er sich und fügt hinzu, dass
       seiner Meinung nach „Unternehmen in Belarus, die Produkte aus den Kolonien
       verkaufen oder verwenden, unter die Sanktionen fallen sollten, denn der
       Einsatz von Zwangsarbeit von politischen Gefangenen bedeutet Unterstützung
       für die Diktatur – und für den russischen Krieg“.
       
       Laut einem Bericht mehrerer NGOs, der 2018 dem UN-Ausschuss gegen Folter
       vorgelegt wurde, haben die in dieser Kolonie angewandten Methoden zum Tod
       von mindestens einem Gefangenen, Alexander Lembovic, geführt. Angehörige
       hätten wegen des „Verdachts der Verweigerung angemessener medizinischer
       Versorgung“ Anzeige erstattet und seien von der Justiz abgewiesen worden.
       Eine andere NGO berichtet vom Fall Artyom Anishchuks, einem politischen
       Gefangenen aus der selben Strafkolonie, der Metallgegenstände geschluckt
       haben soll, um „der Folter und den Schlägen ein Ende zu setzen“. Anfang Mai
       listete die belarussische NGO Viasna 63 politische Gefangene auf, die in
       diesem IK-15-Gefängnis „beschäftigt“ waren.
       
       Der Ikea-Zulieferer Mogotex hat laut einer Schuldnerliste im Jahr 2019 im
       Jugendgefängnis IK-2 Textilien eingekauft. Die Einrichtung mit Sitz in
       Babrujsk, einer 200.000-Einwohner-Stadt im Zentrum des Landes, ist für ihre
       besonders entwürdigenden Methoden bekannt. Das ging so weit, dass der
       Leiter von IK-2 zwischen 2006 und 2014 wegen der damaligen „unmenschlichen
       Behandlung politischer Gefangener“ auf der Sanktionsliste der EU stand.
       Erst kürzlich prangerte die litauische NGO Our House die Arbeitsbedingungen
       der Insassen von IK-2 an, die „2 bis 5 Rubel pro Monat“ erhielten, also
       weniger als zwei Euro. Der belarussische Durchschnittslohn betrug im
       September 2022 laut offiziellen Statistiken 1.637 Rubel, umgerechnet etwa
       600 Euro. Disclose-Informationen zufolge haben zwischen 2014 und 2019
       mindestens sechs belarussische Partner von Ikea mit diesem Jugendgefängnis
       zusammengearbeitet.
       
       Zu diesen Partnern gehörte auch die Borwood-Gruppe, der größte Verband
       öffentlicher Holzproduzenten des Landes. Ein Borwood-Tochterunternehmen
       namens Vitebskdrev beauftragte das IK-2-Gefängnis beispielsweise im Jahr
       2016 mit der Lieferung von „Holzbrettern“, wie eine von Disclose
       eingesehene Schuldnerliste enthüllt. Borwood hat sich übrigens die Mühe
       gemacht, seine Holzprodukte nach den Standards von Ikea zu zertifizieren.
       
       Laut Angaben des belarussischen Innenministeriums arbeiten allein in
       holzverarbeitenden Strafkolonien derzeit rund 8.000 Gefangene. „Die
       Produktion in den belarussischen Strafkolonien ist ein hochentwickelter
       Wirtschaftssektor mit Handelsunternehmen, die in diesen Kolonien gegründet
       wurden“, erklärt der Straßburger Politikwissenschaftler und Experte für
       Protestbewegungen in Belarus, Yauheni Kryzhanouski, gegenüber Dis-close.
       Diese Unternehmen betrieben kommerzielle Websites, die ganz „normal“
       aussehen, abgesehen eines kleinen Hinweises „Produktion des
       Straf-Korrektiv-Systems“.
       
       Das Beispiel des Gefängnisses Rypp 5 steht sinnbildlich für dieses System,
       das, ohne sich zu verstecken, Haft und Zwangsarbeit vermischt. „Unsere
       Organisation steht für natürliche Materialien, hohe Qualität und eine große
       Auswahl an Modellen“, heißt es auf der Website der Einrichtung, die mit den
       von ihr hergestellten Möbeln und ihren Exporten nach Russland, Frankreich
       und Deutschland wirbt. Neben Fertigprodukten bietet das Arbeitslager, das
       in Baracken und eine Produktionsstätte unterteilt ist, auch eine
       „Produktion auf Bestellung, unter Berücksichtigung Ihrer Wünsche“.
       
       Rypp 5 geht mit der Zeit und hat sich sogar einen Instagram-Account
       eingerichtet, auf dem Fotos von Produkten veröffentlicht werden, die bei
       potenziellen Kunden Lust auf mehr machen sollen. Ein Zweisitzer-Sofa für
       134 Euro: 62-mal „Gefällt mir“. Ein Schrank aus massivem Kiefernholz zum
       Preis von 137 Euro: 40-mal „Gefällt mir“. Wer auf den Fotos natürlich
       fehlt, sind die Gefangenen, die diese Produkte hergestellt haben. Laut der
       NGO Viasna werden dort derzeit mindestens sechs politische Gefangene
       festgehalten. Darunter Illia D., ein 25-jähriger Mann, der eine fünfjährige
       Haftstrafe verbüßt, weil er angeblich einen Polizisten per Sprachnachricht
       bedroht haben soll.
       
       Einige der in Rypp 5 hergestellten Möbel werden direkt in belarussischen
       Geschäften verkauft. Andere werden von der Firma Ivatsevichdrev erworben,
       einem großen staatlichen Möbelhersteller und weiteren Handelspartner von
       Ikea, wie aus Buchhaltungsunterlagen aus dem Jahr 2017 hervorgeht. Dieses
       Unternehmen, eines der größten im Bereich des Exports von Spanplatten, hat
       seine Holzprodukte übrigens ebenfalls nach den Standards des Möbel-Multis
       zertifizieren lassen.
       
       Die Verbindungen mehrerer Ikea-Zulieferer zu belarussischen Strafkolonien
       seien „höchst problematisch“, kommentiert Martin Müller, Professor am
       Institut für nachhaltige Unternehmensführung der Universität Ulm in
       Deutschland und Lieferketten-Experte, der vorab einen Teil der
       Recherche-Ergebnisse einsehen konnte. Seiner Meinung nach hätte das
       Unternehmen seine Zulieferer, auch die indirekten, überprüfen müssen, um
       die Präsenz von Strafkolonien in der Kette auszuschließen. Dies gilt wohl
       umso mehr, als sich die diesbezüglichen Warnungen auch innerhalb des
       Unternehmens häuften. [2][Verschiedene Ikea-Gewerkschaften hatten die Firma
       aufgefordert, ihre Geschäfte mit Belarus bis 2021 einzustellen], forderten
       „unabhängige Untersuchungen bei ihren Zulieferern im Land, um
       festzustellen, ob sie die Menschen- und Arbeitsrechte einhalten“. Auch
       Experte Müller sieht das so: „Jetzt muss es eine Untersuchung geben.“
       
       Im März dieses Jahres, als Russland gerade überraschend in die Ukraine
       einmarschiert war, meldete sich Ikea öffentlich zu Wort. In einer
       unbemerkten Mitteilung kündigte der Großkonzern an, seine „Exporte und
       Importe“ aus Russland, aber auch aus Belarus, dem [3][Hauptverbündeten von
       Wladimir Putin im Krieg], zu stoppen. Diese Entscheidung sei aus
       Solidarität mit den „Millionen von Betroffenen“ getroffen worden, erklärte
       das Unternehmen.
       
       Von der taz mit den Vorwürfen zu Belarus konfrontiert, antwortete Ikea,
       dass der Konzern die vertraglichen Verbindungen mit Belarus seit den
       EU-Sanktionen Oktober 2020 abgebrochen hat. Außerdem verpflichte Ikea alle
       Zulieferer, sich an Standards zu halten, die mit den Vorgaben der
       Internationalen Arbeitsorganisation der UN übereinstimmen. Hinweisen, dass
       diese Standards gebrochen werden, gehe man sofort nach.
       
       Doch angesichts der vorliegenden Informationen hätte die schwedische Firma
       ihre Zusammenarbeit mit der Diktatur wohl schon vor Jahren beenden müssen.
       Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass Ikea nicht zum ersten Mal mit
       Häftlingsarbeit in Verbindung gebracht wird. Im November 2012 musste Ikea
       zugeben, dass es in den 1970er und 1980er Jahren politische Gefangene in
       der DDR beschäftigt hatte. Damals zeigte sich der Generaldirektor des
       deutschen Ablegers „tief betroffen“ von den Enthüllungen. „Ikea hat es
       nicht akzeptiert und wird es auch nie akzeptieren, dass politische
       Gefangene in der Produktion eingesetzt werden“, sagte er. Ein Versprechen,
       das der Konzern nicht halten konnte.
       
       In Zusammenarbeit mit dem Non-Profit-Newsroom Disclose
       
       17 Nov 2022
       
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