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       # taz.de -- Beginn der Fußball-WM in Katar: Spiel mit dem Ball
       
       > Am Sonntag beginnt die Fußballweltmeisterschaft der Männer in Katar. Es
       > ist ein scheußliches Ereignis um einen faszinierenden Sport.
       
   IMG Bild: Training in Doha vor dem Start der WM in Katar
       
       Für Christopher Nkunku, Stürmer in Diensten von RB Leipzig, ist der Traum
       von der WM schon vorbei, bevor der erste Ball beim Turnier in Katar
       gespielt worden ist. Der französische Kicker hat sich im Training mit der
       Nationalmannschaft am linken Knie verletzt. Einer der besten Fußballer, die
       in der Bundesliga unter Vertrag sind, wird also fehlen in Katar. Viel
       Spielzeit hätte er wohl ohnehin nicht bekommen beim Titelverteidiger, der
       als einer der großen Favoriten ins Turnier geht, das am Sonntag beginnt.
       Mit Karim Benzema von Real Madrid und Kylian Mbappé von Paris Saint-Germain
       hat Nationaltrainer Didier Déschamps zwei Angreifer im Team, die noch
       besser sind als Nkunku. Moment mal! Wovon ist hier gerade die Rede? Doch
       nicht etwa von Fußball? Darf das sein?
       
       Nein! Das werden all diejenigen sagen, die sich in den vergangenen Wochen
       in einen wahren Haltungsrausch hineingesteigert haben. Das Turnier in Katar
       gilt als WM der Schande. Wegschauen ist die erste moralische Bürgerpflicht,
       so scheint es. Es wird Grausames berichtet aus dem Emirat, in dem Tausende
       Arbeitsmigranten auf Baustellen für Stadien oder die WM-Infrastruktur ums
       Leben gekommen sind, in dem Homosexualität unter Strafe steht und das mit
       seinen Gasmilliarden beinahe alles auf der Welt kaufen kann – eine
       Fußball-WM zum Beispiel. Und dann ist da ja noch die Fifa, der
       Internationale Fußballverband, dieses denkwürdige Konstrukt zur
       Ermöglichung von Korruption. Diese WM ist wirklich eine Zumutung.
       
       Aber eines ist auch klar. Diese Fifa-WM 2022 in Katar ist keine
       Schaumgeburt aus einem finsteren Gebräu, das schwarze Magier im
       Fifa-Hauptquartier in Zürich und der katarischen Hauptstadt Doha
       zusammengemixt haben, um der Fußballwelt eins auszuwischen. Sie ist der
       logische, vorläufige Endpunkt einer Entwicklung, die in den 1990er Jahren
       ihren Ausgang genommen hat. Aus nationalen Ligen, deren einzige Aufgabe es
       zuvor war, den Spielbetrieb zu organisieren, wurden
       Vermarktungsorganisationen, die Übertragungsrechte meistbietend am besten
       in die ganze Welt verkauft haben.
       
       Die Gründung der englischen Premier League 1992 war ein erster Meilenstein
       auf dem Weg zur Umwandlung des Fußballsports in ein Produkt. An die
       irrwitzigen Umsätze der Champions League, die 1995 den Europapokal der
       Landesmeister abgelöst hat, hat man sich längst gewöhnt. Knapp 80 Millionen
       Euro hat der FC Bayern München in der laufenden Saison dieses Wettbewerbs
       bereits kassiert – für sechs Spiele. Ein großes Thema sind diese irren
       Zahlen schon lange nicht mehr.
       
       ## Immer neue Regeln
       
       Und damit das Spiel auch attraktiv genug ist für die guten Kunden in aller
       Welt, wird kräftig an den Regeln geschraubt. Seit 1990 jagt eine
       Regeländerung die nächste. Begonnen hat das alles mit einer Rückpassregel.
       Früher durfte der Torhüter einen Pass von einem Mitspieler mit den Händen
       aufnehmen. Seit 1992 ist das verboten. Die Zahl der erlaubten
       Einwechslungen ist mittlerweile auf fünf gestiegen, in den großen
       Wettbewerben kommt eine Technologie zum Einsatz, mit der zweifelsfrei
       festgestellt werden kann, ob ein Ball hinter der Linie ist oder nicht. Und
       die Videoschiedsrichterei soll dafür sorgen, dass es nie wieder
       Fehlentscheidungen gibt.
       
       Dazu haben die Verbände dafür gesorgt, dass die größten Klubs und
       Nationen möglichst immer bei den großen Wettbewerben dabei sind. Sollte
       der FC Bayern mal wirklich nur Vierter in der Bundesliga werden, er dürfte
       dennoch in der Champions League spielen. Und natürlich soll sich nicht
       wiederholen, was in diesem Turnierzyklus passiert ist. Damit eine
       Fußballgroßmacht wie Italien nicht noch einmal in der Qualifikation
       scheitert, wird das Teilnehmerfeld einfach erhöht. In vier Jahren beim
       Megaturnier in Mexiko, den USA und Kanada spielen 48 Mannschaften um den
       Titel. In Katar sind es noch 32.
       
       Um das irrwitzige Millionenspiel zu immer höheren Umsätzen zu treiben,
       werfen sich Klubs und Verbände schon seit Jahren sinistren Geldgebern an
       die Brust. Der russische Energiekonzern Gazprom war bis zum Februar einer
       der Großsponsoren der Champions League. Deren Veranstalter, die
       europäische Fußballunion Uefa hat jahrelang von Aserbaidschans
       Staatskonzern Socar Geld bezogen, Manchester City ist mit Ölmillionen aus
       Abu Dhabi zum Spitzenklub geworden, und Newcastle United möchte das mit
       Geld aus Saudi-Arabien werden.
       
       ## Wo die Ultras singen
       
       In den Kurven deutscher Stadien, wo die Ultras singen, Fahnen schwenken und
       bengalische Fackeln entzünden, ist die Kritik an diesen Auswüchsen des
       Fußballsports schon lange zu vernehmen. Eine kommerzkritische Fankultur hat
       sich da entwickelt. Dass sie vergleichsweise günstig auf Stehplätzen ihrer
       Sangeslust freien Lauf lassen können, haben die Kurvenfans auch denen zu
       verdanken, die für ein Spiel tief in die Tasche greifen und von ihrem Trip
       in den VIP-Bereich des Stadions noch jede Menge Merchandising-Produkte aus
       dem Fanshop mit nach Hause nehmen. Ein Trikot mit dem Namen eines Spielers
       gehört zum Standardeinkauf eines Fanshop-Besuchers.
       
       Auch um die besten Sportler auf dem Feld ist ein Geschäft entstanden,
       dessen Auswüchse nur dann zu fassen sind, wenn Whistleblower der
       Öffentlichkeit Einblicke in monströse Verträge ermöglichen und auf Konten,
       die gut vor Steuerbehörden versteckt auf karibischen Inseln liegen. Längst
       gibt es Spieler, die größer sind als die Klubs, bei denen sie unter Vertrag
       stehen. Cristiano Ronaldo, der müde gewordene Superstar aus Portugal, hat
       496 Millionen Follower auf Twitter. Sein aktueller Klub Manchester United
       kann da mit seinen 61 Millionen Folgeleistenden nicht mithalten. Die Macht
       der Spieler und ihrer Berater macht die Stars schier unantastbar. Ihre
       Forderungen werden immer höher.
       
       Den Klubs scheint nichts anderes übrig zu bleiben, als zu bezahlen. So ist
       ein Wachstumsbusiness entstanden, das trotz irrer Umsatzzuwächse alles
       andere als eine Basis für lohnende Geschäfte ist. Irrwitzige
       Beraterhonorare und geschmacklose Spielergehälter fressen die immer höheren
       Einnahmen aus Sponsoring und TV-Vermarktung auf.
       
       Was jener Kylian Mbappé bei Paris Saint-Germain verdient, ist so ganz genau
       nicht bekannt. Konservative Schätzungen gegen von einem Jahressalär von gut
       80 Millionen Euro aus. Aber auch ein [1][abgetakelter Ex-Weltmeister wie
       Jérôme Boateng], der nur noch als Beziehungsgewalttäter von sich reden
       macht, verdient bei Olympique Lyon noch 240.000 Euro im Monat.
       
       Kein Wunder, dass die Klubs bei der Suche nach Einnahmequellen den
       moralischen Kompass erst einmal zur Seite legen. Als Katar mit den Plänen
       für eine WM-Bewerbung in das Geschäft eingestiegen ist, sich als
       Zahlmeister angeboten hat, hatte sich der Fußball längst von jedem Anstand
       verabschiedet.
       
       Die Fans, die Freunde des Fußballs, seine Kunden aber, die haben über die
       Jahre immer mitgespielt. Wer bei der WM wegschauen möchte, der muss sich
       fragen, warum er dies nicht schon im Sommer vor vier Jahren getan hat, als
       sich Russland für die tolle WM-Stimmung in der ganzen Welt hat feiern
       lassen. Und Katar-Boykotteure, die nach der WM beim Spiel des FC Bayern
       gegen Paris Saint-Germain im Achtelfinale der Champions League einen
       schönen Fußballkneipenabend verbringen, sollten sich fragen, ob sie bei
       einem beliebigen Spiel einer Amateurmannschaft aus der Nachbarschaft nicht
       besser aufgehoben wären.
       
       ## Ein Pass oder einer von zehn
       
       Gut möglich, dass das am Spiel selbst liegt. Es ist der Fußball, den so
       viele Menschen lieben. Es macht eben einen Unterschied, ob von zehn langen
       Pässen über 50 Meter vielleicht mal einer ankommt oder jeder. Der moderne
       Spitzenfußball ist für die Spieler nicht nur immer lohnender geworden, die
       Spieler selbst sind auch professioneller geworden. Es kann einfach gut
       aussehen, wenn Kylian Mbappé zu einem seiner phänomenalen Sprints ansetzt
       und dabei in höchster Geschwindigkeit den Ball so verarbeitet, wie es
       andere nicht einmal im Stehen könnten. In der Kreisliga wird man so etwas
       gewiss nie sehen.
       
       Ebenso phänomenal sind die Geschichten vom professionellen Sportlerleben
       eines modernen Fußballstars. Robert Lewandowski ist auch nicht Tag und
       Nacht allein damit beschäftigt, sein Vermögen zu verwalten, er zieht auch
       schon mal eine Schlaftherapeutin zu Rate. [2][So schläft er immer auf der
       linken Seite], sagt er, weil er Rechtshänder sei und mit dem rechten Fuß
       den besseren Schuss habe. Wird er zeigen, was er kann, wenn am kommenden
       Dienstag Polen gegen Mexiko um Punkte in der WM-Gruppe C spielt?
       
       Halt! Es wird doch nicht schon wieder um Fußball gehen hier? Doch. Nicht
       nur – aber eben auch.
       
       20 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Haeusliche-Gewalt-im-Profisport/!5889142
   DIR [2] https://www.spox.com/de/sport/fussball/bundesliga/fc-bayern/2201/Artikel/robert-lewandowski-ernaehrung-diaeten-schlafrhythmus-fitnessplan.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Rüttenauer
       
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