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       # taz.de -- Kriegsverbrechen in Bosnien: Ineffektive Justiz
       
       > Im Jugoslawienkrieg wurden 20.000 Menschen Opfer sexualisierter Gewalt.
       > Doch Gutachten zeigen: Die bosnische Justiz arbeitet das nur langsam auf.
       
   IMG Bild: Die Zusammenarbeit mit der bosnischen Justiz sei von Beginn an schleppend gewesen, sagte Carla Del Ponte, Chefanklägerin des ICTY, schon 2003
       
       Belgrad taz | In einer kleinen Galerie in der Belgrader Innenstadt hängen
       Mitte Oktober mehrere Porträtfotografien. Sie zeigen die Gesichter junger
       Menschen, einige von ihnen mit ihren Müttern. Sie nennen sich selbst Kinder
       des Krieges. Denn einige von ihnen sind geboren, weil ihre Mütter während
       des Bosnienkriegs 1992 bis 1995 vergewaltigt wurden. Sie spüren bis heute
       die Auswirkungen des Krieges: Ihre Existenz ist ein gesellschaftliches
       Tabu. Sie werden ausgegrenzt und erhalten keinerlei staatliche
       Unterstützung.
       
       20.000 Menschen wurden [1][während der Jugoslawienkriege Opfer]
       sexualisierter Gewalt. Nur wenige konnten ihre Peiniger vor Gericht stellen
       oder Entschädigungszahlungen erhalten. Ein von der
       Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoguz (SPD) in Auftrag gegebenes
       Gutachten, das der taz exklusiv vorliegt, kommt nun zu dem Schluss, dass
       Verbrechen dieser Art in Bosnien und Herzegowina nur unzureichend
       aufgearbeitet werden.
       
       Demnach beklagen verschiedene Akteur:innen, dass die bosnische Justiz
       Kriegsverbrechen seit 2004 nur ineffektiv und langsam vor Gericht bringt.
       Vor allem komplexe Verfahren stehen auch 27 Jahre nach Ende des Krieges
       noch aus. Sie werden oft aufgeschoben, um Erledigungsquoten zu erfüllen.
       
       In einem Bericht von 2020 kommt das UN Committee on the Elimination of
       Discrimination against Women zu dem Schluss, dass „Ermittlungen zu
       konfliktbedingter sexueller Gewalt in Bosnien und Herzegowina ineffektiv
       und langsam waren und dass die Entschädigung und Unterstützung für die
       Opfer unzureichend war.“
       
       ## Schwere Zusammenarbeit mit bosnischer Justiz
       
       „Das Gutachten unterstreicht, dass es gerade bei Opfern sexualisierter
       Gewalt an Unterstützung und Entschädigung mangelt“, sagt auch Özoguz
       gegenüber der taz. „Ihnen Zugang zu effektiven Verfahren und Kompensation
       zu verschaffen, ist unabdingbar.“
       
       Dabei setzte Bosnien 2008 eine nationale Strategie im Umgang mit
       Kriegsverbrechen fest und ein eigens dafür eingerichtetes Organ sollte
       deren Einhaltung überwachen. Doch die komplizierte Zusammenarbeit zwischen
       der oberen bosnischen Justiz und den Bezirks- und Kantonsgerichten bereitet
       Probleme: Auf beiden Ebenen herrscht Bearbeitungsstau.
       
       Laut einem OSZE-Bericht waren 2020 immer noch mindestens 571 Fälle mit
       4.498 Verdächtigen unbearbeitet. Und das sind nur die Fälle, bei denen die
       Täter schon feststehen.
       
       Laut OSZE-Bericht nimmt die Erledigungsquote seit 2017 stetig ab. 2020
       schloss die Justiz insgesamt 18 Verfahren ab, mit einer letztinstanzlichen
       Verurteilung von 52 Prozent. 2016 brachte die Justiz noch 67 Verfahren zu
       einem Ende, 63 Prozent mit Verurteilung.
       
       Bis 2017 konzentrierte sich der in Den Haag ansässige Internationale
       Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) auf die
       strafrechtliche Verfolgung der politischen und militärischen Führungsebene
       der ehemaligen Kriegsparteien. Die bosnischen Gerichte sollten hingegen vor
       allem Verfahren gegen untere Befehlsebenen bearbeiten. Dafür wurde eigens
       eine Kammer eingerichtet. 2017 änderte sich das. Seitdem überwacht und
       unterstützt ein von den [2][Vereinten Nationen mandatiertes Tribunal] die
       Aufarbeitung durch die bosnische Justiz.
       
       Die Zusammenarbeit mit der bosnischen Justiz sei aber von Beginn an
       schleppend gewesen, sagte Carla Del Ponte, Chefanklägerin des ICTY, schon
       2003. Insbesondere die Republika Srpska, eine der Teilrepubliken in Bosnien
       und Herzegowina, und die Partei der bosnischen Kroaten hätten sich
       gesträubt.
       
       ## Lauter Nationalismus im Balkanstaat
       
       Noch heute lassen sich regionale Unterschiede erkennen. Während in der
       Föderation Bosnien und Herzegowina sowie dem Brčko-Distrikt die
       Verurteilungsquote bei Fällen von sexualisierter Gewalt im Zeitraum 2004
       bis 2016 bei 90 Prozent lag, lag sie in der Republik Srpska bei nur 50
       Prozent.
       
       Währenddessen sind 27 Jahre nach Ende des Krieges viele Angeklagte zu alt
       oder krank, um noch vor Gericht gestellt zu werden. Andere sind in der
       Zwischenzeit gestorben. „Die Verfahren müssen schneller und effektiver
       werden“, sagt Özoğuz. „Nur so kann die wichtige Versöhnung zwischen den
       Ethnien in Bosnien und Herzegowina vorankommen.“
       
       Doch aktuell [3][sind die nationalistischen Töne in dem Balkanland] so laut
       wie seit dem Ende des Krieges nicht mehr. Der serbische Nationalistenführer
       Milorad Dodik fordert immer wieder die Abspaltung der Republika Srpska und
       auch die Wahlen im Oktober gingen nicht ohne Zwischenfälle über die Bühne.
       
       3 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
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