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       # taz.de -- Jazzfest Berlin 2022: Den Urknall nacherzählen
       
       > Was für eine musikalische Reise! Von einer Feuerlöscher-Ouvertüre bis in
       > die Tiefen der Ozeane reichte sie im diesjährigen Berliner Jazzfest.
       
   IMG Bild: Echtes Spektakel: Sven-Ake Johannson dirigiert die Feuerlöscher-Ouvertüre beim Jazzfest
       
       Fünfzehn Performer*innen mit Feuerlöschern stehen sich im Haus der
       Berliner Festspiele auf zwei Bühnenpodesten gegenüber. Der 79-jährige
       [1][Schlagzeuger und Aktionskünstler Sven-Åke Johansson] betritt die Bühne
       und dirigiert diese in den folgenden zehn Minuten durch seine Komposition
       „MM schäumend – Ouvertüre für 15 Handfeuerlöscher“. Willkommen bei der 59.
       Ausgabe des Jazzfests Berlin!
       
       Das Bild der sprühenden Feuerlöscher steht geradezu metaphorisch für die
       Spielfreude, die dem Publikum an vier Festival-Tagen im Berliner Westen um
       die Ohren flog. Das Programm verfolgte neben einer würdigenden Werkschau
       des besagten Feuerwehrhauptmanns Johansson in diesem Jahr im Wesentlichen
       drei Stränge: einmal die Wiederentdeckung der europäischen Folklore als
       elementaren Einfluss im globalen Jazz. Dann die Dekonstruktion von allem,
       was einem im Jazz lieb, wichtig und heilig ist, sei es Pentatonik, Swing
       oder den einfachen Klang einer Trommel. Schließlich die Afrodiaspora mit
       einem erneuten Fokus auf die US-Jazzmetropole Chicago als Ursprung und
       ewigem Leuchtturm der irdischen wie kosmischen Jazzmusik.
       
       Das Festival begann am Donnerstag ebenfalls auf der großen Bühne des
       wiedereröffneten und zuvor lange sanierten Hauses der Berliner Festspiele
       mit dem Hemphill Stringet um US-Cellistin Tomeka Reid, die nach einigen
       Ensemble-Beteiligungen erstmals als Bandleaderin nach Berlin kam. Ihr
       Quartett spielte ein überaus gelungenes kammermusikalisches Konzert auf der
       Basis von Charles-Mingus-Kompositionen.
       
       In ihnen wurden Assoziationen zu seriellen TV-Cartoon-Kompositionen eines
       Carl Stalling wieder wach: Ein akustisches Abbild unseres hektischen
       Alltags als Roadrunner-Rollercoaster, mit gelegentlichen Wohlfülloasen zum
       Durchatmen. Das Katz-und-Maus-Spiel der Instrumente beeindruckte
       nachhaltig.
       
       Dann trat zum ersten Mal beim Berliner Jazzfest der Chicagoer Drummer Hamid
       Drake in Aktion, um mit seinem Septett Turiya der großen Musikerin Alice
       Coltrane (1937–2007) und ihrem Album „Turiya sings“ Tribut zu zollen.
       Leider schwang Drake zunächst eine nicht enden wollende Rede, in der er dem
       Publikum von zahlreichen Begegnungen mit der Künstlerin berichtete. Viel
       lieber hätte man dem hervorragend besetzten Ensemble dabei zugehört, wie
       die Musiker*innen gemeinsam eine spirituelle Kraft im Sinne Coltranes
       entwickelt hätten. Reden sollten wir trotzdem weiter über den Einfluss
       fernöstlicher Religionen auf Alice Coltranes Schaffen. Gerade weil die
       Debatte um kulturelle Aneignung immer noch schwelt.
       
       ## Respektvolle Aneignung und Transformation
       
       Das ist ja tatsächlich immer das Aufregende am Jazz gewesen: Seine Musik
       war und ist Ort der respektvollen kulturellen Aneignung, aber eben auch
       immer schon Raum für Transformation in neue Formen, Kontexte und
       Umgebungen. Dafür gab es eine Lehrstunde in Sachen Neue Musik meets Modern
       Jazz. Und zwar in DSL-Geschwindigkeit. Der Detroiter Pianist Craig Taborn
       und sein Quartett mit dem Bassisten Nick Dunston war in allerbester
       Spiellaune und legte bei seinem Konzert radikalen Umgestaltungswillen an
       den Tag. Blues von Hochbegabten!
       
       Der Donnerstagabend endete auf der Nebenbühne der Kassenhalle des
       Festspielhauses mit einem Highlight: Das französisch-polnische Quartett
       Lumpeks um den Saxofonisten Pierre Borel und Sängerin und Trommlerin Olga
       Kozieł. Lumpeks spielte polnische Folklore und reicherte diese mit freiem
       Gebläse an, ausgehend von einem tanzbaren Kontrabassimpuls. Europäische und
       zugleich transatlantische Musik – angeschoben von der beeindruckenden
       Bühnenpräsenz der Drummerin.
       
       ## Endlich Brötzmann
       
       Am Freitag trat Hamid Drake ein zweites Mal auf der großen Bühne auf,
       diesmal im Trio mit dem marokkanischen Sänger und Gimbri-Spieler Majid
       Bekkas und dem [2][Wuppertaler Saxofonisten Peter Brötzmann.] Für Brötzmann
       war dieser Abend in zweifacher Hinsicht besonders: Der 81-Jährige wurde von
       der Jury vom „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ für sein Lebenswerk
       ausgezeichnet und danach spielte er endlich mal wieder live beim Berliner
       Jazzfest.
       
       Der Legende nach wurde er 1966 eingeladen, verweigerte damals aber den
       Dresscode und durfte nicht auftreten. Spätestens mit diesem Auftritt ist es
       Kuratorin Nadin Deventer und ihrem Team gelungen, diese Scharte ein für
       alle Mal auszuwetzen. Stehende Ovationen für den durchaus denkwürdigen
       Auftritt des Trios, wenn man bedenkt, für welche radikalen Strömungen im
       Jazz Peter Brötzmann stand – [3][im Gegensatz zu dem über viele lange
       Jahre, nun ja, eher wertkonservativen Programm des Berliner Jazzfests].
       
       Am Samstag jagte dann ein Höhepunkt den anderen. Es gab [4][eine
       funkensprühende Performance von der Saxofonistin Matana Roberts] und ihrem
       Ensemble. Die 51-jährige US-Künstlerin schafft es, die afroamerikanische
       Geschichte und feministisches Empowerment in ihren „Coin Coin“-Suiten so
       stringent zu verdichten wie niemand sonst. Während ihr Schlagzeuger die
       Maultrommel spielte, mischte Roberts ihre Tarot-Karten auf der Bühne, um
       anhand dieser die weitere Dramaturgie des Konzerts festzulegen, bevor sie
       wieder ins Saxofon blies!
       
       Einem Inferno kam dann das Konzert des Chicagoer Saxofonisten Isaiah
       Collier mit seinem Quartett The Chosen Few gleich. So eine Dringlichkeit,
       ja so einen Wall of Sound über eine Stunde, hatte man lange nicht gehört.
       Als würde Collier mit seiner Band in einer Konzertstunde den kompletten
       Urknall nacherzählen.
       
       Danach hätte das Festival ruhig zu Ende sein dürfen, aber am Sonntag ging
       es weiter – und es gab nicht nur Konzerte im Haus der Berliner Festspiele,
       sondern auch noch im kleinen Charlottenburger Club A-Trane und der
       Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche.
       
       ## Nicht nach Hause gehen
       
       Im Stammhaus der Berliner Festspiele erforderte dagegen ein Feueralarm die
       schnelle Saalräumung, der Rauchmelder hatte Backstage Zigarettenrauch
       ausgemacht. Zum Glück war das Konzert von Ben LaMar Gay mit seinem Quartett
       darob nur leicht verspätet. Mit seiner improvisierten „Ring the
       alarm“-Gesangsperformance gleich zu Beginn wurde man den Verdacht nicht
       los, dass LaMar Gay derjenige gewesen sein könnte, der den Alarm ausgelöst
       hatte.
       
       Seine Musik klang dabei so mysteriös beseelt wie [5][der britische
       R&B-Innovateur Dean Blunt], wenn der sich auf den Karneval von New Orleans
       verirrt hätte. Eine beeindruckende Performance mit Sousafon, hyperschnellen
       Drums, Synthesizer-Sequenzen, Trompete und wunderbar passiv-aggressivem
       Gesang. „Wir lieben es, an dunklen Orten wie diesem hier zu spielen!
       Bedankt euch bei euch selbst“, sprach der Bandleader ins leicht verzerrte
       Mikrofon. Gut, dass es am Ende doch nur ein Fehlalarm war.
       
       Danach konnte man immer noch nicht nach Hause gehen. Denn der
       Tortoise-Gitarrist Jeff Parker spielte ein umjubeltes Solokonzert in der
       Kassenhalle, während zur gleichen Zeit das aus São Paulo stammende Quartett
       Quartabê eine intensive Unterwasser-Suite aufführte. Dunkelheit auf der
       Bühne sollte nicht die Untiefen der Nacht, sondern die undurchdringliche
       Tiefsee symbolisieren. Was für eine musikalische Reise! Von einer
       Feuerlöscher-Ouvertüre bis in die Tiefen der Ozeane – in einem Haus an vier
       Tagen. Wo gibt es das sonst?
       
       9 Nov 2022
       
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