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       # taz.de -- Wahlwiederholung in der Hauptstadt: Berliner Wahlkrampf
       
       > Das Verfassungsgericht hat gesprochen: Die Berliner Wahlen von 2021
       > müssen wiederholt werden. Dem rot-grün-roten Senat kommt das eher
       > ungelegen.
       
   IMG Bild: Ist als damaliger Innensenator politisch verantwortlich für das Berliner Wahldebakel: Andreas Geisel
       
       Berlin taz | Und dann ist in Berlin [1][schon wieder Wahlkampf]. Keine elf
       Monate ist die Koalition aus SPD, Grünen und Linken unter Franziska Giffey
       (SPD) im Amt, da müssen die Parteien erneut bei den Berliner*innen um
       Bestätigung werben.
       
       Das liegt nicht etwa daran, dass das linke Bündnis zerbrochen wäre, was
       nach den zähen Koalitionsverhandlungen im Herbst 2021 kaum jemanden
       überrascht hätte. Doch, sieh an, die sachliche Zusammenarbeit klappe gut,
       betonen alle drei Parteien. Entsprechend überschaubar ist der Drang, in den
       Wettstreit gegeneinander zu ziehen, nachdem das Berliner Verfassungsgericht
       am Mittwoch [2][die Wahl zum Abgeordnetenhaus von 2021 für ungültig
       erklärt] hat.
       
       Da es nun aber so ist, steht der grüne Fraktionschef Werner Graf am
       Donnerstag am Rednerpult des Berliner Abgeordnetenhauses und teilt kräftig
       aus. Zugespitzt fordert Graf den Kopf des SPD-Bausenators. Ein
       unfreundlicher Akt zwischen politischen Ehepartner*innen; in anderen Zeiten
       wäre dieser Auftritt wohl ein Trennungsgrund.
       
       Aber dies sind keine normalen Zeiten, es ist Wahlkampf. Oder besser:
       Wahlkrampf. Deshalb vermeidet Graf das Wort „Rücktritt“, und er nennt auch
       nicht den Namen des Senators. Andreas Geisel heißt er. Die Wahlwiederholung
       sei der „worst case“ für die Berliner Politik, schimpft Graf; diese
       „Klatsche“ müsse Konsequenzen haben. „Ein einfaches Weiterwurschteln, ein
       Schönreden darf es nicht geben.“
       
       Geisel war in der vergangen Legislaturperiode Innensenator in Berlin und
       damit politisch verantwortlich für die Organisation der Wahlen. Die neun
       Richter*innen des Berliner Verfassungsgerichtshofs haben in ihm –
       ebenfalls ohne seinen Namen zu nennen – einen der Hauptschuldigen
       ausgemacht für die derart schlechte Organisation. Bekanntlich kam es zu
       zahlreichen Pannen, falsch ausgegebenen Wahlzetteln, langen Schlangen und
       Wahllokalen, die teils bis nach 20 Uhr geöffnet waren.
       
       In seinem Urteil am Mittwoch folgerte das Gericht, dass nur eine komplette
       Wiederholung der Wahl eine „Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses
       gewährleistet, die den rechtlichen Anforderungen an demokratische Wahlen
       genügt“, wie Ludgera Selting, die Präsidentin des Verfassungsgerichtshof,
       erklärte. Am 12. Februar 2023 wird erneut gewählt.
       
       Doch dass Geisel wegen der Pannen sein Amt aufgeben muss, ist
       unwahrscheinlich. Zu wichtig ist er für die Berliner Bürgermeisterin
       Franziska Giffey; schließlich soll er für 20.000 neue Wohnungen pro Jahr
       sorgen und das Giffey’sche Mantra vom „Bauen, bauen, bauen“ umsetzen,
       sprich, das im vergangenen Wahlkampf zentrale Thema Mieten- und
       Wohnungspolitik abräumen. Zudem hat sich die Regierende Bürgermeisterin
       offenbar entschieden, einen Wohlfühlwahlkampf zu führen. Schlechte
       Nachrichten passen da nicht ins Bild.
       
       ## SPD, Grüne und CDU ziemlich gleichauf
       
       2021 hatte sich Giffey noch explizit von zentralen Punkten der
       rot-grün-roten Koalition unter ihrem Vorgänger Michael Müller abgegrenzt
       und etwa mit autofreundlichen Thesen um Stimmen von der CDU geworben. Nun
       verkauft sie die Politik der Koalition seit ihrem Amtsantritt als einen
       großen Erfolg: So habe man 100.000 Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen,
       eigenständige Hilfsprogramme in Höhe von 3 Milliarden Euro für
       Berliner*innen und die hiesige Wirtschaft aufgestellt und ein
       29-Euro-Ticket nur für Berlin eingeführt. Die Botschaft: Diese Koalition
       bringt Berlin gut durch die Energiekrise.
       
       Wie die im Winter verlaufen wird, wird maßgeblich das Wahlergebnis
       beeinflussen. Zu viel Zwist zwischen den Senator*innen – darin sind
       sich alle einig – kommt da überhaupt nicht gut an bei den Wähler*innen.
       Diese wünschten sich angesichts der ungewissen Lage nichts mehr als
       Sicherheit.
       
       Darüber hinaus sind Prognosen schwierig. Aktuelle Umfragen gibt es bisher
       wenige, zuletzt standen die drei aussichtsreichsten Parteien SPD, Grüne und
       CDU gleichauf bei je knapp 20 Prozent. Wird die CDU zur großen Gewinnerin,
       weil sie im Bund im Vergleich zu 2021 zugelegt hat? Wie kommt die
       Regierende Giffey bei den Berliner*innen an? Man weiß es nicht so
       recht.
       
       Schließlich stehen Grüne, Linke und SPD vor einem weiteren Dilemma:
       Eigentlich wollen sie die Koalition fortsetzen, Linke und Grüne sagen es
       offen. Letztere hoffen, diesmal vor der SPD zu landen und mit Bettina
       Jarasch die Regierungschefin zu stellen.
       
       Doch wie Politik und Profilierung letztlich zusammengehen, weiß niemand.
       Und Bausenator Geisel, den würden Grüne und Linke tatsächlich gern noch
       loswerden.
       
       18 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Bert Schulz
       
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