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       # taz.de -- Grüne Politik im Alltag: Einer von hier
       
       > Kassem Taher Saleh wuchs als irakischer Flüchtling in Sachsen auf. Nun
       > sitzt er für die Grünen im Bundestag und hält engen Kontakt zur alten
       > Heimat.
       
   IMG Bild: Vater und Mutter warnten vor der Politik. Nun steht Saleh vor seinem Wahlkreisbüro und die Eltern sind stolz
       
       Plauen taz | An einem Abend im Oktober macht Kassem Taher Saleh einen
       Ausflug in sein altes Leben. Er beginnt auf dem Sportplatz von Wacker
       Plauen. Dienstag, 18 Uhr, die Herrenmannschaft trainiert. Es ist dunkel,
       die Spieler stehen im Flutlicht. Taher Saleh hat sich nicht angekündigt.
       „Die kennen mich hier alle noch“, sagt er. Sieben Jahre hat er, der Kurde,
       hier gespielt.
       
       „Ey, wo haste deine Fußballschuhe?“, fragt der Erste.
       
       „Was wollen denn die Ausländer wieder hier?“, ruft einer. Fistbumps.
       „Spaß!“
       
       „Mit euch Grünen können wir uns die Energie nicht leisten. Ihr habt uns die
       ganze Scheiße eingebrockt“, meint ein anderer. „Spielste am Donnerstag
       mit?“
       
       „Nee, eher nicht. Termine.“
       
       Kassem Taher Saleh, 29, spielt jetzt Mittelfeld, im FC Bundestag.
       
       2003, er ist zehn, flieht Taher Salehs Familie aus dem Irak nach Plauen im
       Vogtland, ins Dreiländereck von Sachsen, Thüringen, Bayern. Im
       Flüchtlingsheim wächst er auf. Wacker Plauen, der Fußballklub ein paar
       Straßen weiter, ist seine Brücke in die deutsche Gesellschaft.
       
       Mit 20 geht Taher Saleh nach Dresden, studiert Bauingenieurwesen. 2019
       tritt er den Grünen bei, 2021 wird er in Dresden in den Bundestag gewählt.
       Das Vogtland ist einer der beiden Wahlkreise, die er mitbetreuen muss. Dazu
       schläft er nun manchmal in seinem alten Kinderzimmer, fährt mit dem VW
       seiner Eltern herum. Die führen ein Lebensmittelgeschäft in der Innenstadt.
       
       Plauen ist kein sonderlich guter Ort für Grüne. Im Bundestagswahlkampf
       griff ein 50-Jähriger den Grünen-Stand an, verletzte die 19-jährige
       Kreisvorsitzende Lea-Sophie Gauglitz. Er habe „seinen Unmut äußern“ wollen,
       sagt die Polizei. Auch die Redner der [1][wöchentlichen Großdemos] des
       rechtsextremen „Forums für Demokratie und Freiheit“ wollen das. Anfang
       November giftete der Auftaktsprecher über eine „wohlstandsverwahrloste
       grüne Sekte und ihren rot-gelben Wurmfortsatz, die an die Seelen unserer
       Kinder und Enkel will“, zum Zwecke „abscheulicher Experimente“. Tausende
       klatschten begeistert.
       
       In Plauen hat [2][die Nazipartei Dritter Weg] ihre Zentrale und unterhält
       ein Stadtteilzentrum. 2021 klebte sie Plakate mit der Aufschrift:
       [3][„Hängt die Grünen!“] Gerade eben erst, Anfang November, weigerte sich
       ein Amtsrichter, deswegen ein Verfahren gegen den Dritten Weg zu eröffnen.
       
       Das also ist die Stadt, in die Taher Saleh alle zwei Monate fährt, um den
       Leuten zu erklären, dass die Grünen ihre Sache in der Regierung ganz gut
       machen. Wie schafft man das?
       
       Es hilft, wenn man von hier kommt.
       
       „Es wird schlimmer dargestellt, als es ist“, sagt der Trainer auf dem
       Fußballplatz über die Energiepreise. „So sieht man mal, wie sehr man im
       Überfluss lebt und was man einsparen kann.“ Die Solaranlage fürs
       Vereinsheim ist bestellt. „Früher nach dem Training war eine halbe Stunde
       das Licht an. Jetzt machen wir es direkt aus, warum nicht, ist doch gut,
       haben ja auch keinen Bock auf fette Nachzahlung.“
       
       „Ja, schade, dass es einen Krieg braucht dafür“, sagt Taher Saleh. Und
       später, auf dem Weg zur Pizzeria: „Das hat mich überrascht, dass es hier
       ein Umdenken gibt.“
       
       Der Schwatz auf dem Fußballplatz ist gewissermaßen das Aufwärmen für einen
       Termin am nächsten Tag. Wegen dem ist Taher Saleh eigentlich hier. Der
       Krisenstab der Stadt Reichenbach sieht die Energiepreise nicht so locker
       wie der Fußballtrainer. In einem offenen Brief an Robert Habeck fordert er
       „bedingungslose Versorgungssicherheit“ und Verhandlungen mit Russland. Aus
       der „emotionalen Empörung“ über den russischen Angriff seien Entscheidungen
       gefällt worden, die mit einer „rationaleren Analyse und Strategie
       vermeidbar“ gewesen wären, schreiben die Kommunalpolitiker.
       
       „Das wird kein Heimspiel da“, sagt Taher Saleh. „Konservatives Lager.“
       
       Beim Verein, gerade eben, war es ein Heimspiel. Trotz der Sprüche von
       Spielern. Die habe es früher auch gegeben. „Das ist nicht böse gemeint, ich
       nehm ihm das nicht übel. Menschlich ist er total okay.“ Früher sei er
       „nicht so sensibel“ dafür gewesen, sagt Kassem Taher Saleh, „ich hab
       mitgelacht.“ Heute empfinde er das anders. „Wenn ich dem heute was über
       Rassismus erzählen würde, der würde sagen ‚Was erzählst du mir, Kassem? Du
       bist der Ausländer und fertig.‘ “
       
       Respektiert habe er sich trotzdem immer gefühlt. „Wenn man gut spielt, dann
       wird das honoriert.“ Man müsse in Plauen die „harte Schale knacken, dann
       sind die Leute absolut loyal“. Wenn bei gegnerischen Klubs Nazis
       mitgespielt hätten, sei immer Verlass auf seine Mannschaft gewesen. Und so
       empfinde er „Sachsen gegenüber Dankbarkeit“.
       
       Wofür genau?
       
       „Aufnahme, Loyalität, eine Perspektive, meine Ausbildung.“
       
       Deshalb habe er etwas zurückgeben wollen. Er war Schiedsrichter, später
       Schülersprecher, hat die Spielberichte [4][für die Vereinswebseite]
       geschrieben. Und ist jetzt eben: Abgeordneter.
       
       Der Bruder des Pizzabäckers hat auch bei Wacker Plauen gespielt. Sein Vater
       steht heute hinterm Tresen. „Was machst du heute?“, fragt er Taher Saleh.
       
       „Politik. Bin Abgeordneter.“
       
       „Politik? Kommt nix bei raus. Ist scheiße.“
       
       „Meinste?“
       
       „Ja.“
       
       Den Grünen trat Taher Saleh erst 2019 bei, als er mit der Uni fertig war.
       „Menschenrechte, Minderheiten“, diese Themen waren ihm wichtig. „Ich hab
       mich selbst als Minderheit gefühlt.“
       
       Kurz danach brach Corona aus. Deshalb bestand seine Parteikarriere zunächst
       vor allem aus Zoom-Calls. Schon nach einem Jahr geriet er auf die
       Landesliste. „Natürlich gibt es da Neid. Manche fragen: ‚Warum mache ich
       das seit Jahren hier, wenn Kassem sofort in den Bundestag kommt?‘ “
       
       Er hat in Plauen ein Büro in der Innenstadt, gemeinsam mit dem grünen
       Landtagsabgeordneten Gerhard Liebscher. Am Abend trifft er den Ortsverein
       dort zum ersten Mal persönlich. Es könnte genauso gut ein Treffen in
       Baden-Württemberg sein: klassisches Grünen-Milieu, weiße Akademiker, leicht
       ergraut, langjährig engagiert.
       
       Die Kreisvorsitzende, Ulrike, sagt zur Begrüßung: „Man braucht hier gerade
       ein dickes Fell.“ Durch die aktuelle Lage gerate man bisweilen in
       Erklärungsnot. „Deswegen ist es gut, dass mal wer von der Regierung hier
       ist.“
       
       Taher Saleh legt eine Tupperdose mit Nusskeksen auf den Tisch. „Das hat
       meine Mutter gebacken.“
       
       Dann fängt er an. Habeck mache seine Sache super, Baerbock auch. „Aber wir
       sind in einer schwierigen Lage und verletzen unsere Werte bei den Themen
       Verteidigung und Energie. Wir wollen ehrlich kommunizieren, da gehört es
       dazu, das zu sagen. Gleichzeitig haben wir viele Erfolge. Beim Ausbau der
       Erneuerbaren zum Beispiel.“
       
       Die Parteileute sehen es ähnlich. Sie nicken.
       
       „Worüber wollen wir reden?“, fragt Taher Saleh. „Menschenrechte, Katar,
       LNG, das Zukunftszentrum in Plauen?“
       
       Ein Mann, der sich als Dieter vorstellt, will über Habeck sprechen: „Erst
       war er sehr kommunikativ, jetzt taucht er ab, nach dem Crash mit der
       Gasumlage. Jetzt sieht er auch körperlich nicht mehr so gut aus. Ich mache
       mir ernsthaft Sorgen um ihn.“
       
       Ein anderer sagt, er habe Habeck live auf dem Parteitag gehört. „Schlapp
       und müde“ sei der „gegenüber der Annalena“ gewesen. [5][„Der Mann ist so in
       die Ecke gedrängt, der kämpft wie ein Löwe, und dann stellt sich der
       Lindner hin, als wäre er der nächste Kanzler“], sagt der Mann. „Vielleicht
       ist der Robert zu defensiv? Wie gut ist sein Backoffice? Hat der da Idioten
       sitzen?“
       
       Taher Saleh erzählt von der Dreier- und der Sechserrunde der Koalition und
       davon, wie Habeck übel mitgespielt worden sei mit der Gasumlage: „Die FDP
       macht immer schon abgesprochene Sachen wieder auf, das ist extrem
       kraftraubend.“
       
       Jemand fragt, warum Scholz [6][im Hamburger Hafen die Chinesen einsteigen
       lässt]: „Das stinkt doch!“ Taher Saleh hat auch darauf eine Antwort parat.
       Man müsse „den Sicherheitsbegriff erweitern“ und „auf kritische
       Infrastruktur fokussieren“.
       
       Das ist eine typische Politformel – aber sie ist nicht falsch. Und wie will
       man ganz ohne Stanzen durch solche Tage kommen, an denen man alles Mögliche
       erklären soll, man ist ja schließlich von der Regierung. Über viele Themen
       haben die Leute hier schon diskutiert, da war Taher Saleh noch gar nicht
       geboren. Die langjährige politische Sozialisation, die junge Grüne
       üblicherweise haben, fehlt ihm mit seiner Blitzkarriere. Aber er schlägt
       sich nicht schlecht. Die Basis ist anscheinend zufrieden mit ihm.
       
       Das Asylbewerberheim, in dem Taher Saleh seine Jugend verbrachte, liegt in
       einer alten Kaserne im Westen Plauens. Fünf Jahre lebte Taher Salehs
       Familie hier, sechs Personen in drei Zimmern im ersten Stock.
       Deutschunterricht gab ihnen eine Ehrenamtliche im Keller, auch sie eine
       Grüne.
       
       Als er jetzt auf den Eingang des Heims zugeht, kommt ein Mannschaftswagen
       der Polizei angerast. Einer der Bewohner hat einen anderen mit einem Messer
       verletzt. Männer stehen hinter dem Gittertor und schauen zu, wie Polizisten
       den Angreifer abzuführen versuchen. Der wehrt sich aus Leibeskräften und
       brüllt, als ging es um sein Leben.
       
       „Gehen Sie weiter“, sagt ein Wärter zu Taher Saleh. „Ich bin
       Bundestagsabgeordneter“, entgegnet dieser, als sei es normal, dass
       Politiker abends um zehn vor Flüchtlingsheimen herumstehen. Der Wärter
       murmelt etwas, er scheint Taher Saleh nicht zu glauben.
       
       Der Angreifer trägt nur T-Shirt und Hose, er brüllt und tritt um sich. Es
       ist eine bedrückende Szene. Drei Polizisten versuchen, den Mann auf den
       Rücksitz des Mannschaftswagens zu setzen, aber er leistet zu viel
       Gegenwehr. Sie zerren an ihm, schlagen ihn aber nicht. Vielleicht liegt das
       an Taher Saleha Anwesenheit. „Das wird hier nichts. Den kriegen wir nicht
       gewahrsamsfähig“, sagt einer der Polizisten. Sie entscheiden, ihn von
       Sanitätern abholen zu lassen. Es ist wohl nicht die schlechteste
       Entscheidung. In einem Krankenhaus scheint der Mann zweifellos besser
       aufgehoben als in einer Zelle.
       
       Taher Saleh beobachtet alles schweigend.
       
       „Ein bisschen retraumatisierend“ sei die Situation für ihn gewesen, sagt er
       später, denn „früher gab es das hier auch“. Wobei die Polizei damals „viel
       offensiver, viel aggressiver“ gewesen sei. „Die kamen nachts immer mit
       Schäferhunden rein.“ Die Familien hätten sie okay behandelt, am schlimmsten
       sei es alleinstehenden Männern ergangen. „Aber so was als Kind dauernd
       ansehen zu müssen, ist schon schrecklich.“
       
       Für seine Eltern sei das Leben in der Asylunterkunft hart gewesen. „Man
       kommt, spricht die Sprache nicht, hat keinen Alltag. Ich hatte schon
       Alltag, mit Schule und Fußball. Aber meine Eltern haben gelitten ohne Ende,
       hatten Depressionen.“ Sein Bruder habe Medikamente gebraucht, ihm ging es
       psychisch so schlecht, dass die Familie 2008 in die Wohnung ziehen durfte,
       in der sie heute noch lebt, obwohl ihr Asylantrag noch gar nicht durch war.
       Erst 2011 sorgte ein Härtefallantrag für ein Bleiberecht.
       
       Seine Mutter war im Irak Lehrerin, sein Vater, ein Volkswirt, arbeitete
       beim Zoll. Mit ihrem Lebensmittelgeschäft kämen sie heute zurecht. Aber sie
       konnten in Deutschland erst spät anfangen zu arbeiten. „Altersarmut ist da
       auch ein Thema“, sagt Taher Saleh. Als seine Eltern hörten, dass er in die
       Politik gehen wollte, waren sie dagegen. „ ‚Konzentrier dich auf dein
       Studium‘, haben sie gesagt.“ Aber schließlich wurde er eben doch
       Abgeordneter und lud seine Eltern in den Bundestag ein. „Sie waren super
       stolz, ohne Frage.“
       
       Wenn er schon mal mit einem Reporter in der Stadt unterwegs ist, in der er
       aufwuchs, gibt er gern eine kleine Führung. Der Skateshop: „Da waren alle
       cool, fresh, gestylt. Stabile Jungs, die sprayen und HipHop mögen. Und sie
       waren immer klar gegen Rassismus“, sagt Taher Saleh. So sei der Laden ein
       „Safe Space“ für ihn gewesen.
       
       Etwas weiter die Straße hinunter liegt das Islamische Zentrum
       Al-Muhadjirin. Nazis haben das Gebäude schon mehrfach mit [7][Schweineblut
       und Schweineköpfen] geschändet. Jahre nachdem Taher Saleh Plauen verlassen
       hatte, wurden [8][Salafismus-Vorwürfe gegen Prediger des Zentrums] laut.
       Als Jugendlicher hatte er hier Koran- und Arabisch-Unterricht. „Meiner
       Mutter war das extrem wichtig, ich hatte da damals überhaupt keinen Bock
       drauf.“ Er betet nicht, verzichtet aber auf Schweinefleisch und Alkohol,
       hält den Ramadan ein. „Weil mich das immer wieder zurück zu meinen Wurzeln
       bringt.“
       
       Die Straßenbahnhaltestelle: „Da saßen immer alle. Sehen und gesehen
       werden“, erinnert sich Taher Saleh. „Meine Eltern haben gesagt:,Hey mein
       Sohn, bleib zu Hause!' Aber ich wollte auch cool sein, dazugehören.“
       Anderen stand dafür der Alkohol offen, für ihn blieb der HipHop: „Massiv,
       Bushido, Sido, Hose in den Socken.“ Dieser Style scheint bei ihm noch heute
       durch, mit einer Frisur wie beim Rapper Haftbefehl, und auch diese
       bestimmte Art zu sprechen glimmt manchmal auf. Er habe selbst mal gerappt,
       sagt Taher Saleh, „aber das ist zum Glück bei Myspace verschwunden“.
       
       Die Westseite der Altstadt liegt auf einem Höhenzug mit Blick auf die
       waldigen Hügel des Vogtlands. Seine Eltern hätten immer betont, wie schön
       es in der Region sei. „Die waren happy, dass wir nicht in einer größeren
       Stadt gelandet sind, wegen Drogen und so.“
       
       Taher Salehs einstige Schule liegt in einem Plattenbauviertel. Im
       Musikzimmer warten Jugendliche auf ihn, er ist zu einer Fragestunde
       gekommen. Seine frühere Informatiklehrerin legt ihm eine Hand auf die
       Schulter und fragt: „Wie alt bist du jetzt?“ Die Direktorin scherzt: „Da
       merkt man, wie alt man selber ist.“ Sie ist offensichtlich stolz auf ihren
       früheren Schüler.
       
       Taher Saleh trägt einen weiten Pulli, bunte Sneaker, bunte Socken. Das
       Einzige, was die Seriosität des Worts „Bundestag“ verströmt, ist eine
       braune Wildledermappe für sein iPad. Er schildert seinen Werdegang und
       schließt den kleinen Vortrag mit den Worten: „Die Plauener haben mich
       immer unterstützt“. Dann fragt er in die Runde: „Worüber wollt ihr reden?
       Klimakrise? Zocken? Cannabis?“ Für Jugendliche eine ausnehmend passende
       Ansprache – und sofort kommen die ersten Fragen.
       
       „Wie viel verdienen Sie?“
       
       Er rechnet vor, dass ihm von den 10.000 Euro Diät nach allen Abgaben – auch
       an die Partei – etwa 4.000 netto bleiben. „Viel Geld.“ Die Schüler nehmen
       es regungslos zur Kenntnis.
       
       „Dürfen Sie irgendetwas nicht sagen in der Öffentlichkeit?“
       
       „Nein, ich bin frei.“
       
       Am Vortag war er schon mal hier in der Schule, in einer anderen Runde. Die
       Lokalzeitung Freie Presse hat einen Artikel darüber geschrieben. „Haben Sie
       schon mal gekifft?“, lautet die Überschrift. Die Direktorin hält den
       Artikel hoch. „Es gab bessere Fragen“, sagt sie.
       
       „Es gab bessere“, bestätigt Taher Saleh. „Aber das ist Pressefreiheit.“
       
       Die Schüler finden allerdings, dass es keine bessere als die Frage nach dem
       Marihuana gibt, also: [9][„Wie war das erste Mal, als Sie gekifft haben?“]
       
       „Nichts gemerkt. Ich mache das nur punktuell, das entspannt mich“, sagt
       Taher Saleh. Dann erzählt er von der geplanten Legalisierung: „Nächstes
       Jahr können wir den ersten legalen Joint rauchen.“
       
       Es ist wieder ein Heimspiel.
       
       Anders als in Reichenbach, wo Taher Saleh am selben Tag noch den
       aufgebrachten Krisenstab besänftigen will, der einen Wutbrief an Robert
       Habeck geschickt hat.
       
       Taher Salehs Referent hat ihm die Zahlen zur geplanten Gaspreisbremse zu
       spät geschickt, ein nervöses Telefonat ist fällig, während er mit dem
       elterlichen VW nach Reichenbach brettert. „Wie viel ist das genau?“, fragt
       Taher Saleh und schaut an einer Ampel ungeduldig auf sein Smartphone. Dann
       gibt er wieder Gas. „Pünktlich da sein ist sehr wichtig. Respekt.“
       
       Er schafft es gerade noch rechtzeitig, parkt auf dem Marktplatz, schlüpft
       in ein hellblaues Hemd und ein braunes Sakko. Die bunten Sneaker und Socken
       lässt er an. Der Bürgermeister, der Leiter der Stadtwerke, die Chefin der
       Wohnungsbaugesellschaft und der Vorsitzende der Wirtschaftsvereinigung, ein
       Wurstfabrikant, sind gekommen. Sie hatten den Offenen Brief geschrieben.
       Wütend auf die Regierung sind sie immer noch. Auch ein grüner Ratsherr
       sitzt im Saal, und ein Reporter der Lokalzeitung.
       
       Der Bürgermeister sagt, dass die Menschen „ja nicht zu Habeck gehen,
       sondern die stehen bei mir vor dem Schreibtisch“.
       
       Der Fabrikant sagt, dass es „im Lebensmittelbereich sehr kritisch“ sei. „Da
       können manche nächstes Jahr dicht machen.“ Das „Hüh und Hott“ der Koalition
       habe „extrem genervt. Wir fühlen uns nicht mitgenommen“. Und warum werde
       ignoriert, dass Fachleute sagen, dass der Weiterbetrieb der AKWs sinnvoll
       sei?
       
       Der Chef der Stadtwerke findet es „unfassbar, mit wie viel Geld um sich
       geschmissen wird. Wer soll das finanzieren?“ [10][Regional Strom zu
       produzieren, das wolle man ja auch, aber so gehe das alles nicht.] „Der
       Zappelstrom“ – er meint Sonne und Wind – „der ist mal da und mal nicht. Wir
       brauchen aber Transformation in gesicherte Leistung.“
       
       Die Frau von der Wohnungsbaugesellschaft sagt: „Wenn 50 Prozent unserer
       Kunden die Erhöhung der Nebenkosten nicht zahlen können, sind wir in sieben
       Monaten pleite.“
       
       Taher Saleh erwidert, dass er als Bauingenieur im Bundestag [11][im
       Bauausschuss] sitze. Dass er aus Plauen stamme und seine Eltern auch nicht
       viel Geld hatten.
       
       Der Krisenstab nickt.
       
       Umrüstungsförderung. 200 Milliarden Abwehrschirm. Preisbremse. 12 Cent
       für Privathaushalte, 7 Cent für Gewerbe und Kommunen. Das alles seien die
       Antworten der Ampel auf die „bekannte Problematik“. Taher Saleh spricht von
       LNG-Terminals, davon, dass „jetzt alle zusammen an einem Strang ziehen“.
       Und er duzt die Runde: „Ich höre mir hier eure Wünsche an, und nächste
       Woche gehe ich auf das Ministerium zu: Da müssen wir noch mal ran, und da
       müssen wir noch mal ran.“
       
       Gegen den Ausbau der Erneuerbaren habe ja eigentlich keiner etwas, sagt der
       Fabrikant. „7 Cent, das ist Planungssicherheit, auch wenn die uns nicht
       gefällt. Aber jetzt können wir unsere Preise danach ausrichten.“
       
       Der Geschäftsführerin der Wohnungsbaugesellschaft brennt noch etwas anderes
       unter den Nägeln, sie stört sich an der Russlandpolitik. „Warum ist
       Russland jetzt der Teufel?“, fragt sie. „Das Land hat unsere Besatzungszone
       geprägt. Wo sind denn jetzt die Diplomaten, die verhandeln?“
       
       Taher Saleh sagt, er sei ein Fan von Diplomatie. „Aber Putin hat sich
       selbst isoliert.“ Die Frau ist nicht überzeugt. „Die viertgrößte
       Wirtschaftsnation schafft sich selber ab“, behauptet sie. „Das ist doch
       nicht die deutsche Mentalität, die ich kenne“, entgegnet Taher Saleh. „Wir
       machen den radikalen Wandel, um wieder Weltmarktführer zu werden.“
       
       Solche Sätze hört man hier natürlich gern. Dann werden Selfies gemacht.
       
       Ein guter Termin, sagt der Bürgermeister hinterher: „Zu den Menschen
       runterkommen, um unsere Perspektive zu verstehen.“ Taher Saleh setzt sich
       in die Dönerbude gegenüber vom Rathaus und bestellt Halloumi. „Ich hab’s
       noch härter erwartet“, sagt er. „Man kriegt sie über Respekt. Und über das
       ‚zusammen‘. Alle ein Team, gemeinsam. Und über die Identität. Meine Eltern
       sind ja ebenfalls von hier, verdienen auch keine 3.000 Euro.“
       
       „Bundestagsabgeordneter nimmt Reichenbacher Sorgen mit nach Berlin“, steht
       am nächsten Tag in der Freien Presse. „Aus Plauen stammender Politiker hört
       sich die Nöte der Menschen in der Stadt an. Umsetzbarkeit von Politik soll
       geprüft werden.“
       
       Es hilft, wenn man von hier kommt.
       
       19 Nov 2022
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Grünenpolitiker über Zukunft des Bauens: „Wir müssen mehr im Bestand bauen“
       
       Grünen-Politiker Kassem Taher Saleh sagt, dass Union und SPD die Probleme
       auf dem Wohnungsmarkt unterschätzten. Es reiche nicht, nur neu zu bauen.
       
   DIR Verbindungen zur Wirtschaft: Grüne strengen sich doppelt an
       
       Die Grünen haben nun zwei Kanäle zu Unternehmen, davon ist die
       Wirtschaftsvereinigung neu. Daneben gibt es schon den Grünen
       Wirtschaftsdialog.
       
   DIR Strukturhilfen für Braunkohleregionen: Notwendiger Umbau
       
       Zwei Großforschungszentren sollen die Ängste der Ostdeutschen vor dem
       Kohleausstieg mildern. Ihre stabilisierende Wirkung stößt auf Skepsis.
       
   DIR Grünen-Abgeordnete Emilia Fester: Politik der schnellen Schnitte
       
       Emilia Fester bringt Parlamentsalltag auf Instagram und Gefühle in den
       Plenarsaal. Nach Shitstorms fragt sie sich: Sollte ich vorsichtiger werden?
       
   DIR Demokratiearbeit in Sachsen: Am eckigen Tisch
       
       In Plauen beendet die CDU mit Stimmen von AfD und „Der III. Weg“ die Arbeit
       eines Demokratiebündnisses. Das Bündnis macht nun ohne die CDU weiter.