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       # taz.de -- Russland und Deutschland: Moskaus fossiler Faschismus
       
       > Die autokratischen Tendenzen in Russland sind auch ein Produkt des
       > westlichen Hungers nach Öl und Gas. Deutschland hat da einen blinden
       > Fleck.
       
   IMG Bild: Staaten, die von fossiler Förderung leben, neigen dazu, zu Autokratien zu werden. Gas in Russland
       
       Berlin, 24. Februar 2022. Eine Gruppe deutscher Minister:innen trifft
       sich mit Andriy Melnyk, dem damaligen ukrainischen Botschafter in Berlin.
       Thema des Treffens: der russische Einmarsch in die Ukraine, der in den
       frühen Morgenstunden dieses Tages begann.
       
       Dem Bericht des ukrainischen Botschafters zufolge lautete die Position des
       deutschen Finanzministers Christian Lindner damals, dass die vernichtende
       Niederlage der Ukraine eine Frage von Stunden sei; Waffenlieferungen an die
       Ukraine oder Sanktionen gegen die Russische Föderation seien daher
       zwecklos; man solle stattdessen eine besetzte Ukraine mit einer von
       Russland installierten Marionettenregierung in Kauf nehmen und in die
       Zukunft schauen.
       
       Nachdem diese Darstellung Melnyks öffentlich wurde, wurde sie von deutscher
       Seite vehement dementiert. Doch ein genauer Blick auf die deutsche
       Osteuropapolitik der letzten zehn Jahre lässt den Bericht sehr glaubwürdig
       erscheinen.
       
       Schließlich hat die deutsche Regierung mit ihrer Zustimmung zum Bau der
       Nord-Stream-Gaspipeline, die Russland und Deutschland – unter Umgehung der
       ukrainischen Gastransitrouten – über den baltischen Meeresboden verbinden
       sollte, den russischen Eliten glasklar zu verstehen gegeben, dass das
       Territorium der Ukraine ab jetzt Verhandlungsmasse war.
       
       ## Leeres Gerede
       
       Mit der Beteiligung am Nord-Stream-Projekt hat Deutschland – vielleicht
       unbewusst – signalisiert, dass jegliche frühere Verlautbarungen über die
       bedeutende Rolle der Ukraine im europäischen Projekt leeres Gerede waren.
       In der europäischen Realität, die sich nach dem Zusammenbruch der
       Sowjetunion herausbildete, war der neuen unabhängigen Ukraine ganz
       offensichtlich nur eine einzige geopolitische Position zugedacht: als
       Transitzone für die Lieferung russischer fossiler Brennstoffe an
       europäische Konsument:innen über die in der Sowjetzeit in ukrainischem
       Boden versenkten Öl- und Gaspipelines.
       
       Der Hauptgedanke hinter dem Nord-Stream-Projekt bestand darin, sich von
       dieser Gastransitzone unabhängig zu machen; und von dem Moment an, als
       Deutschland mit der Zustimmung zum Bau von Nord-Stream die Ukraine als
       Transitzone für obsolet erklärte, war der Weg für Russlands Invasion im
       Jahr 2022 frei.
       
       Tatsächlich verweist die russlandfreundliche Aussage des deutschen
       Finanzministers vom 24. Februar 2022 auf einen jahrzehntelangen
       Annäherungsprozess zwischen den zwei ehemaligen Gegnern – und ehemaligen
       Großmächten – Russland und Deutschland, die eine prägende Erfahrung des
       Scheiterns ihrer jeweiligen kolonialen Bestrebungen im 20. Jahrhunderts
       eint. Während das Scheitern des kolonialen Machtstrebens hier das Gefühl
       unheilbarer historischer Schuld hinterließ, blieb dort der unstillbare
       Drang, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verlorene imperiale Größe
       wiederherzustellen.
       
       ## Neokoloniale Logik
       
       Die Geschichten beider Länder lösten sich am 24. Februar perfekt ineinander
       auf: Deutschland schien sich seiner historischen Schuld Russland gegenüber
       entledigen zu können, indem es die oft behauptete Würdigung der nationalen
       Souveränität der Ukraine dem gewaltsamen Russischen Expansionsstreben
       überließ. In der Aussage des deutschen Finanzministers manifestiert sich so
       das Aufeinandertreffen zweier Möchtegern-Supermächte, die sich anmaßen,
       Einflusssphären aufzuteilen und dabei über die Köpfe der osteuropäischen
       Nationen hinweg über deren Schicksal zu entscheiden.
       
       Wie so oft in der Geschichte sollte diese Übereinkunft zwischen den beiden
       imperialen Mächten an einem Faktor scheitern, den beide Seiten nicht
       vorhersahen: [1][dem massiven Widerstand der ukrainischen Bevölkerung]. Wie
       wir heute wissen, waren die westlichen Prognosen über ein rasches
       Einknicken des ukrainischen Widerstands falsch.
       
       Sie beruhten auf einer neokolonialen, technokratischen Logik, die auf einem
       nur oberflächlichen Wissen über die Dynamiken der zu kolonisierenden
       Gesellschaften fußt. Die Unterstützung der ukrainischen Armee durch die
       Bevölkerung konnte unzählige Menschenleben retten, die zweifellos verloren
       gewesen wären, wenn die Russen mehr ukrainisches Gebiet unter ihre
       Kontrolle zu bringen vermocht hätten.
       
       ## Ukrainischer Widerstand
       
       Aber paradoxerweise hatte dieser Widerstand auch etwas gerettet, was eine
       Rettung nicht verdient hätte: den Ruf jener deutschen Politiker, die lange
       bereit waren, mit Russland Business as usual zu betreiben, selbst nachdem
       es sich zu einem faschistischen, massenmörderischen Monster zu entwickeln
       begann. Eine verhaltene Kehrtwende in ihrer Sicht auf Russland vollzogen
       diese Eliten erst, als klar wurde, dass der ukrainische Widerstand den
       russischen Blitzkrieg gestoppt hatte.
       
       Wie kam es dazu, dass das immer offensichtlichere Abgleiten der Russischen
       Föderation in eine unverkennbar faschistische Politik ein blinder Fleck der
       deutschen Eliten – und eines Großteils der Öffentlichkeit – blieb?
       
       Hätten nicht gerade die (West-)Deutschen dank der Reeducation der
       Nachkriegsjahrzehnte besonders gut trainiert gewesen sein müssen,
       faschistische Bedrohungen dieser Größenordnung zu erkennen? Wo war der
       antifaschistische Konsens der deutschen Gesellschaft geblieben? Das sind
       die Fragen, die sich viele in der Ukraine jetzt vergeblich stellen.
       
       ## Neofaschistische Neigungen
       
       Um die heutige Russische Föderation als ein faschistisches Regime zu
       erkennen, hätte es des Krieges und der damit verbundenen Verleugnung des
       Existenzrechts einer bestimmten ethnisch-politischen Gruppe eigentlich gar
       nicht erst bedurft.
       
       Lang bevor die russischen Staatsmedien zur physischen Auslöschung der
       ukrainischen Identität und zur Einrichtung von Umerziehungslagern für
       Überlebende dieser Säuberungen aufriefen und die russischen
       Invasionstruppen dies in den besetzten Gebieten der Ukraine in die Tat
       umsetzten, zeichnete sich der Charakter dieses Regimes deutlich ab. Der
       ideologische Kurs der Russischen Föderation war angesichts der seit Jahren
       zur Schau gestellten neofaschistischen Neigungen der russischen
       Führungseliten längst kein Geheimnis mehr.
       
       Dennoch wäre es falsch, den heutigen russischen Faschismus als bloße
       Wiederholung der faschistischen Bewegungen der Vergangenheit zu betrachten.
       Während der historische Faschismus aus Klassenkämpfen und gescheiterten
       Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts hervorging, entstehen die heutigen
       Faschismen als Reaktion auf aktuelle globale, allen voran dekoloniale,
       antipatriarchale und ökologische Kämpfe.
       
       ## Die ökologische Dimension
       
       [2][Die Russische Föderation macht aus dem kolonialen Charakter] ihrer
       Invasion in der Ukraine keinen Hehl; dasselbe gilt für die
       antifeministische, männlich-chauvinistische Agenda, die von Russlands
       Marionetten weit über die eigenen Grenzen hinaus verfolgt wird (am
       deutlichsten in Ländern wie Polen und Ungarn). Die ökologische Dimension
       des neuen russischen Faschismus wurden hingegen im öffentlichen Diskurs
       bislang kaum thematisiert – nicht ohne Grund.
       
       Einerseits ist ein genauerer Blick auf die doppelte Rolle der russischen
       fossilen Brennstoffe bei der Zerstörung sowohl des Weltklimas als auch der
       europäischen Demokratie dringend geboten. Andererseits entlarvt dieser
       Fokus auch die Komplizenschaft westlicher Regierungen – vor allem der
       deutschen – mit dem Aufkommen eines neuen Faschismus auf dem Kontinent.
       
       Die toxische Verbindung von fossilen Brennstoffen und politischen Systemen
       bringt der Begriff des „Fossil-Fascism“ prägnant auf den Punkt. In ihrem
       Buch „White Skin, Black Fuel: On the Dangers of Fossil Fascism“ führen
       Andreas Malm und das Zetkin-Kollektiv die Bedrohung durch den
       Fossil-Faschismus auf überzeugende Weise auf eine unheilvolle Allianz
       zwischen den fossilen Industrien, die aufgrund ihrer offensichtlichen Rolle
       bei der Klimakatastrophe ihren Niedergang fürchten, und weltweiten nicht
       zufällig den Klimawandel leugnenden rechtsextremen Bewegungen zurück.
       
       ## Russland als Elefant im Raum
       
       Dabei wird die Machtübernahme durch die fossil-faschistischen Regime
       allerdings eher als eine mögliche, wenngleich nicht unausweichliche
       zukünftige Bedrohung denn als eine unmittelbare gegenwärtige Realität
       betrachtet. Diese Einschätzung ist vermutlich eine Folge der geografischen
       Beschränkung ihrer Untersuchungen auf die USA, Brasilien sowie West- und
       Mitteleuropa, durch die die Russischen Föderation – einer der weltweit
       größten Exporteure sowohl fossiler Brennstoffe als auch rechtsextremer
       Ideologien – zum Elefant im Raum wird.
       
       Ein Blick auf die Genese des [3][Putinismus sowohl als rechtsextreme
       Ideologie] als auch als extraktivistisches Wirtschaftsmodell macht jedoch
       deutlich, dass die Pioniere des fossilen Faschismus mitnichten Leute wie
       Trump oder Le Pen waren, wie Malm und das Zetkine-Kollektiv behaupten. In
       Russland läuft dieses Modell nämlich mindestens, seitdem der Kreml seinen
       Einfluss auf die russische fossile Brennstoffindustrie in den frühen 2000er
       Jahren konsolidierte, wie geschmiert.
       
       Zahlreiche Politikwissenschaftler:innen haben in verschiedenen
       Kontexten beobachten können, dass Volkswirtschaften, die auf der Förderung
       fossiler Brennstoffe basieren, dazu neigen, sich in Autokratien zu
       verwandeln. Die Zentralisierung der Macht, ein Erstarken des
       Sicherheitsapparats und die Annahme einer unbegrenzten Verfügbarkeit von
       natürlichen Ressourcen sind typische Auswirkungen der Förderung fossiler
       Brennstoffe und bilden im Zusammenspiel zugleich die Grundlage autoritärer
       Machtmodelle. Ein Modell, das sich zusammen mit dem Erdöl und Erdgas über
       die Grenzen der eigenen politischen Systeme hinaus – zum Beispiel nach
       Westeuropa – exportieren lässt.
       
       ## Deal des Jahrhunderts
       
       Tatsächlich hat die russische Industrie für fossile Brennstoffe – eine
       enorme Infrastruktur für die Förderung und den Transport von Öl und Gas,
       die sich von Sibirien bis nach Europa erstreckt – eine Schlüsselrolle bei
       der Abwicklung des sowjetischen Staatssozialismus und der Entstehung des
       heutigen kleptokratischen, extraktivistischen rechtsextremen Regimes in
       Russland gespielt.
       
       Diese Mechanismen lassen sich nicht ohne ein Ereignis verstehen, das von
       sowjetischen Historikern als „Deal des Jahrhunderts“ bezeichnet wurde und
       dabei einen Meilenstein des besonderen deutsch-russischen Verhältnisses
       darstellt: das Abkommen über den Bau einer transkontinentalen
       Erdgaspipeline, die Westdeutschland und die UdSSR ab den 1970er Jahren
       verbinden sollte, was die USA hartnäckig zu verhindern versuchten.
       
       Die westdeutsche Regierung argumentierte, dass ein Gasgeschäft mit der
       Sowjetunion in diesem gigantischen Ausmaß kein Sicherheitsrisiko darstelle,
       wie die Amerikaner behaupteten. Im Gegenteil: Das deutsche Kalkül war
       erklärtermaßen, dass die sowjetischen Eliten angesichts der zu erwartenden
       Profite durch eine scheinbar nie versiegende Gasquelle den Verführungen des
       kapitalistischen Wohlstands erliegen und zur Aufgabe des kommunistischen
       Projekts verleitet werden könnten.
       
       Was weit hergeholt klingt, wurde 1991 mit der Auflösung der Sowjetunion von
       oben durch die Parteieliten und der beispiellosen Privatisierung der
       Gewinne aus der Industrie für fossile Brennstoffe tatsächlich Realität.
       
       ## Lukrative Geschäfte
       
       In den postsowjetischen Jahrzehnten wurden diese Gewinne nicht nur in
       exorbitanten Reichtum für die lucky few umgewandelt, sondern ließen auch
       einen Militärapparat wiedererstarken und eine Propagandamaschine entstehen,
       die eine aggressive Außenpolitik mit Revanchismus legitimiert. Und während
       die extraktivistische Infrastruktur mittels neuer lukrativer
       russisch-deutscher Geschäfte wie der Nord-Stream-Pipeline weiter rapide
       ausgebaut wurde, träumte Deutschland weiter den Traum vom Wandel durch
       Handel: Solange russische Eliten Ultraprofite aus dem Export fossiler
       Brennstoffe erzielen, würde ihre faschistische Rhetorik niemals in
       militärische Aktionen umschlagen.
       
       Dann [4][kam der 24. Februar 2022.]
       
       In ihrem ideologischen Selbstverständnis präsentiert sich die heutige
       Russische Föderation als antiwestlich und Vertreter eines
       obskurantistischen, orientalistischen, eurasischen Modells. Nichts entlarvt
       die ideologischen Manipulationen des russischen fossilen Faschismus besser
       als dieser Verschleierungsversuch seines Ursprungs. Der fossile Faschismus,
       wie er in Russland entstanden ist, ist auch das direkte Produkt des Umgangs
       Europas – und speziell Deutschlands – mit der eigenen Ressourcenperipherie.
       Das Versäumnis Deutschlands, die eigene Rolle in der Entstehung des
       russischen fossilen Faschismus anzuerkennen, könnte in Zukunft noch zu
       weitaus größeren Katastrophen führen als der, die wir gerade in der Ukraine
       erleben.
       
       Übersetzung des leicht überarbeiteten Texts von Philipp Goll und Elske
       Rosenfeld, zuerst erschienen auf 
       
       [5][https://soniakh.com/index.php/2022/10/04/russian-fossil-fascism-is-euro
       pes-fault/]
       
       20 Nov 2022
       
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   DIR [5] https://soniakh.com/index.php/2022/10/04/russian-fossil-fascism-is-europes-fault/
       
       ## AUTOREN
       
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