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       # taz.de -- Grenzen der Vielfalt: Hinter den Schaufenstern
       
       > „Diversität“ ist das Schlagwort der Stunde, alle setzen heute auf
       > Vielfalt. Nur: Das gängige Verständnis davon greift viel zu kurz.
       
   IMG Bild: Teilt kulturell den Habitus vieler britischer Tories: Premierminister Rishi Sunak
       
       Die neue britische Regierung ist so vielfältig wie keine vor ihr. Vier
       Minister*innen im Kabinett von Rishi Sunak, darunter zwei Frauen, sind
       „People of Color“ – also Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft
       gemeinhin nicht als „Weiße“ wahrgenommen werden: Innenministerin Suella
       Braverman und Handelsministerin Kemi Badenoch. Premier Rishi Sunak selbst
       bezeichnet sich als „stolzen Hindu“ und zelebriert seinen Glauben
       öffentlich, indem er Hindu-Tempel besucht oder zum Lichterfest Diwali vor
       der Tür von 10 Downing Street demonstrativ die obligatorischen Öllampen und
       Kerzen anzündet.
       
       Minderheiten sind in seinem Kabinett sichtbar repräsentiert. Ihre
       Interessen vertritt seine Regierung deswegen aber noch lange nicht. Im
       Gegenteil: Die beiden „Women of Color“ in seinem Kabinett zählen zum
       rechten Rand der Partei und sind als Scharfmacherinnen bekannt. Die
       indisch-tamilischstämmige Braverman und die in Nigeria geborene Badenoch
       sind beide Brexit-Hardliner*innen, ihre liebsten Feindbilder lauten
       „Wokeness“ und „Migration“.
       
       Badenoch wurde durch ihren Kampf gegen Gender-Toiletten bekannt, Braverman
       durch Tiraden gegen Diversity-Trainings und Geflüchtete. Im Parlament
       wettert sie gegen „Guardian lesende, Tofu essende Woketari“. Ihr größter
       „Traum“, [1][bekannte Braverman jüngst], sei die Schlagzeile, dass
       Asylsuchende aus Großbritannien per Flugzeug nach Ruanda abgeschoben
       würden. Sie unterstrich ihre Aussage mit einer Handbewegung, die ein
       abhebendes Flugzeug nachahmte, und einem seligen Lächeln.
       
       Die britische Regierung für ihre Diversität zu feiern wäre deshalb
       voreilig. Politisch hält sich diese Vielfalt in Grenzen, die nach rechts
       offen sind. Ökonomisch vertritt Premier Sunak die Interessen der oberen
       Zehntausend, denen er [2][als Multimillionär] selbst angehört. Und
       kulturell [3][teilt er den Habitus vieler britischer Tories]. Sunak ist
       zudem der reichste Politiker, der je das Amt eines britischen Premiers
       bekleidet hat: ein Aspekt, der viel mehr Beachtung verdient hätte. Seine
       Selbstinszenierung als Hindu soll davon ablenken und Bodenständigkeit
       vermitteln. Damit hat er Erfolg. Denn ein oberflächliches Verständnis von
       „Vielfalt“, das politische, ökonomische und kulturelle Aspekte ausblendet
       und sich an Äußerlichkeiten festmacht, ist weit verbreitet.
       
       Politiker*innen wie Braverman, Badenoch und Sunak werden von
       rassismuskritischen Linken gerne als „Token“ bezeichnet – als Feigenblätter
       für eine Politik, die ansonsten auf Ausgrenzung setzt. Aber auch das greift
       zu kurz. Denn auch Angehörige von Minderheiten können rassistisch,
       sexistisch und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sein. In Braverman,
       Badenoch und Sunak haben sie ihre idealen Repräsentant*innen gefunden.
       
       Unsere Gesellschaften werden vielfältiger, und das spiegelt sich
       zwangsläufig auch in vielen Institutionen wider. Um neue Zielgruppen zu
       erreichen, werben Unternehmen mit „diversen“ Models für sich – wobei das
       meist heißt, dass diese sich aufgrund ihrer Hautfarben und anderer
       körperlicher Merkmale unterscheiden. Medien rücken „diverse“
       Moderator*innen und Journalist*innen in den Vordergrund oder vor
       die Kamera, um sich [4][ein modernes Antlitz] zu geben, und Parteien
       besetzen ihre Gremien entsprechend strategisch um.
       
       An den gesellschaftlichen Strukturen, die bestimmte Gruppen ausschließen,
       ändert sich dadurch noch nichts. „Diversität“ wird heute auch viel zu
       häufig auf Geschlecht und ethnische Herkunft, Religion und sexuelle
       Orientierung reduziert. Klassische Kategorien wie soziale Herkunft, Bildung
       und Einkommen geraten so aus dem Blick.
       
       Gerade Konservative waren auf dem Gebiet symbolischer Gesten oft Vorreiter
       und ihrer Konkurrenz damit häufig einen Schritt voraus. Es waren die
       britischen Tories, die mit Margaret Thatcher erstmals eine Frau an die
       Spitze des Staates brachten, und die Unionsparteien stellten in Deutschland
       die erste Kanzlerin. Es war der Republikaner George W. Bush, der die ersten
       beiden schwarzen Außenminister*innen in der Geschichte der USA
       nominierte. Und es war der rechte Populist Boris Johnson, dessen Kabinette
       so divers waren wie keine vor ihm und der [5][damit die Karrieren seiner
       Nachfolger*innen beförderte.] Wenn linke Politiker ihre Kabinette so
       strategisch besetzen, müssen sie sich oft vorwerfen lassen, sie würden
       „Identitätspolitik“ betreiben und Gruppeninteressen berücksichtigen. Als
       Kanadas Premier Justin Trudeau gefragt wurde, warum sein Kabinett zur
       Hälfte aus Frauen bestand, sagte er: „Weil es 2015 ist.“ Das war kein
       Statement, sondern bloß eine Feststellung.
       
       Denn Vielfalt ist heute Mainstream. Selbst die AfD setzt auf Vielfalt: Ihre
       Parteispitze ist so sorgfältig wie die keiner anderen Partei nach
       Geschlecht, Herkunft und sexueller Orientierung austariert. Sie besitzt –
       wie sonst nur linke Parteien – eine Doppelspitze. Da ist einerseits der
       heterosexuelle, ostdeutsche Handwerker Timo Chrupalla, der in seiner Region
       verwurzelt ist, und auf der anderen Seite die lesbische, westdeutsche
       Akademikerin Alice Weidel, die als Unternehmensberaterin in der Welt
       herumgekommen ist. Im Hintergrund zieht Parteigründer Alexander Gauland,
       81, die Strippen, der als Ehrenvorsitzender die ältere Generation vertritt.
       Da ist für jede*n Wähler*in ein Identifikationsangebot dabei. Vielfalt
       ist für die AfD trotzdem ein Schimpfwort, „Diversity“-Maßnahmen lehnt sie
       entschieden ab.
       
       Wer es mit „Diversität“ wirklich ernst meint, muss sie auf allen Ebenen
       durchsetzen, um gesellschaftlich immer noch benachteiligte Gruppen wie
       Frauen, Migrant*innen, queere Menschen, Arbeiter*innen und Arme auf
       breiter Front gleichzustellen. Dazu braucht es gezielte Anstrengungen,
       [6][gegebenenfalls Quoten]. Ein oberflächliches Verständnis von
       „Diversity“, das sich auf Äußerlichkeiten und Oberflächenkosmetik
       beschränkt, führt nur zu symbolischer Schaufensterpolitik.
       
       23 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.thenational.scot/news/23019788.suella-braverman-dream-see-asylum-seeker-flight-rwanda/
   DIR [2] /Rishi-Sunak-in-Grossbritannien/!5887014
   DIR [3] /Klassengesellschaft-Grossbritannien/!5888777
   DIR [4] /Nachruf-auf-Schauspielerin-Nichols/!5867851
   DIR [5] /Boris-Johnsons-Nachfolge/!5863962
   DIR [6] /Diversitaet-bei-den-Gruenen/!5881170
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Bax
       
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