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       # taz.de -- Politisches Theater: Ein Loch für die Gerechtigkeit
       
       > Den Prozess gegen den Mörder von Walter Lübcke hat ein Theaterkollektiv
       > verfolgt. Doch ihr Stück über die Wahrheitsfindung bleibt oberflächlich.
       
   IMG Bild: Big Image Collective: „revision. Beobachtungen aus dem Saal 165 C“ im Mousonturm Frankfurt
       
       Am Ende steht die Desillusion, denn weder auf Gerichte noch aufs Theater
       scheint Verlass. Hier wie dort klafft eine Lücke zwischen Vorstellung und
       Wirklichkeit. Selten wurde das so klar wie bei der Performance (großes
       Wort) „revision. Beobachtungen aus dem Saal 165 C“ im Frankfurter
       Mousonturm.
       
       Arthur Romanowski, Laura Schilling, Josephine Stamer und calendal vom Big
       Image Collective, eine junge Truppe aus dem Umfeld des Studiengangs
       Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, besuchten vom Juni 2020 bis zum
       Januar 2021 den Prozess gegen Stephan Ernst am Oberlandesgericht in
       Frankfurt.
       
       Ernst ist des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sowie
       des versuchten Mordes an Ahmed I. angeklagt. Für den Mord wurde Ernst zu
       einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, bezüglich des versuchten
       Mordes wegen mangelnder Beweise freigesprochen.
       
       Der Strafverteidiger und bekannte Autor Ferdinand von Schirach weist immer
       wieder darauf hin, dass es so etwas wie eine strafprozessuale Wahrheit
       gebe, die nicht die wirkliche Wahrheit sei. Ins selbe Horn bläst der
       Strafverteidiger Johannes Murmann, der vor der Vorstellung im Mousonturm
       vom Strafprozess als einem ungeeigneten Ort für die Wahrheitsfindung
       spricht.
       
       Das Big Image Collective saß an jedem der [1][45 Verhandlungstage im
       Gericht], schaute zu, dachte nach. Drei von ihnen stehen jetzt in
       pinkfarbenen, kissenartigen Capes, die aussehen wie Sitzsäcke, auf der
       Bühne. Wenn sie die Arme aus dem Ding strecken, ähneln sie molligen M&Ms.
       Das ist leidlich lustig, eher albern und wirkt angesichts der Schwere des
       Sujets nur unangemessen.
       
       ## Zuschauer hier wie dort
       
       Mit viel Brimborium entrollen sie später einen riesigen Vorhang, auf dem
       ein Foto des Sitzungssaals im Oberlandesgericht zu sehen ist. Auch ein
       Zuschauerraum. Dort ein Prozess, hier ein Theater, Pausen hier wie dort.
       
       Im Mousonturm kommt die Pause überraschend früh, und während die meisten
       noch draußen sind, geht es drinnen auch schon wieder weiter mit launigen
       Geschichten der drei Performer:innen, die vom Reden vor Publikum handeln
       und sonst von sehr wenig. Auch das ist leidlich lustig, doch ist man nicht
       zum Lachen hierhergekommen, sondern um neue Einsichten auf die
       Gerichtsbarkeit im Allgemeinen und die Strafsache gegen Stephan Ernst im
       Besonderen zu gewinnen. Die bot zum Glück das Podiumsgespräch vor der
       Performance, von wem auch immer in weiser Voraussicht programmiert.
       
       Außer Murmann gaben dort auch der Autor Martín Steinhagen („Rechter Terror.
       Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt“) und die Soziologin
       Manja Dimitra Kotsas Auskunft. Von ihnen erfuhr man, was auch ein
       klassisches Dokumentartheaterstück, [2][etwa von Rimini Protokoll], aus dem
       Fall herausgeholt hätte. Wissenswertes über Vor- und Nachteile der
       Nebenklage, die historische Kontinuität rechter Gewalt, die Gültigkeit
       widersprüchlicher Geständnisse, die Rechte von Angeklagten.
       
       ## Fröhlicher Dilettantismus
       
       Für Laien sind die Gepflogenheiten vor Gericht oft undurchschaubar. Das Big
       Image Collective begegnet ihnen mit fröhlichem Dilettantismus.
       Offensichtlich geht es ihnen um etwas anderes, um eine andere Sicht auf die
       Dinge, ein spielerisches Umkreisen, in deren Mitte die Frage nach der Rolle
       des Publikums pocht.
       
       Fragen, die der Prozess gegen Stephan Ernst aufwirft, werden an diesem
       Abend kaum beantwortet, sondern in den Raum gestellt. Was ist die Rolle
       eines Prozessbeobachters, worin unterscheidet sie sich von der eines
       Theaterbesuchers? Wie verhält es sich mit der vor Gericht und auf der Bühne
       so oft beschworenen Glaubwürdigkeit? Was ist glaubwürdig, wer entscheidet
       das anhand welcher Erfahrungen?
       
       Was versteht man unter psychischer Beihilfe, wie sie dem freigesprochenen
       Freund von Stephan Ernst, Markus H., nachgesagt wurde? Wie wirkt sich der
       strukturelle Rassismus in Institutionen auf so einen Prozess aus? Konnte
       sich der Iraker Ahmed I., dessen Aussagen übersetzt wurden, genau so
       verständlich machen wie die Muttersprachler:innen? Welche Auswirkungen hat
       das auf die Urteilsfindung? Die Performer:innen schildern einen
       unwirschen Richter, der die übersetzten Aussagen wenig zugewandt aufnahm.
       Bedenkenswert.
       
       Nachdem die drei lange am Vorhang herumnesteln und ihn schließlich wieder
       abnehmen, wickeln sie sich wie Statuen darin ein: Justitia mal drei, ohne
       Waage und Schwert. Schönes Bild. Irgendwann sind leider wieder die
       pinkfarbenen Sitzsäcke im Spiel und einer wirft sich darin gegen die Wand,
       um ein Loch für die Gerechtigkeit zu schlagen. Nice try.
       
       Dass die Einzeltäterthese auch im Fall von Stephan Ernst nicht haltbar ist,
       erweist sich im Laufe des Abends zwar als keine taufrische Erkenntnis, aber
       doch als erwähnenswerte Tatsache. An die tiefer liegenden Ursachen des
       Mordes an Walter Lübcke kommt dieser Abend so wenig heran wie der
       Gerichtsprozess gegen seine Mörder. Hinzu kommt, dass die
       Performer:innen keine überzeugende theatrale Form finden. Am Ende
       fragen sie sich und uns: „Was machen wir hier eigentlich?“
       
       22 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Mord-an-Walter-Luebcke/!5892953
   DIR [2] /Kuenstlergruppe-Rimini-Protokoll/!5884218
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Shirin Sojitrawalla
       
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