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       # taz.de -- Kompromiss beim Bürgergeld: Kein Problem für Karlsruhe
       
       > Der Verzicht auf die teilweise sanktionsfreie Vertrauenszeit beim
       > Bürgergeld ist mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts vereinbar.
       
   IMG Bild: Arbeitsminister Heil bei einem Besuch im Jobcenter Berlin-Lichtenberg
       
       Freiburg taz | Eins vorab: Die sogenannte Vertrauenszeit war eine
       sozialpolitische Entscheidung der Ampelkoalition, keine Vorgabe aus
       Karlsruhe. Wenn es also um Hart-IV-Sanktionen geht, sind stets zwei Typen
       von Pflichtverletzungen zu unterscheiden. Bei der Verletzung von
       Meldepflichten verpasst die Leistungsempfänger:in einen Termin im
       Jobcenter. In der Praxis sind das rund 75 Prozent der Fälle. [1][Die
       öffentliche Diskussion] konzentriert sich aber meist auf die Verletzung von
       Mitwirkungspflichten, weil hier die Sanktionen drastischer sind. Eine
       Mitwirkungspflicht ist etwa die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, einer
       Aus- oder Fortbildung.
       
       Bis 2019 wurde bei einem Meldeversäumnis das Arbeitslosengeld 2 um 10
       Prozent gekürzt. Bei der Verletzung einer Mitwirkungspflicht waren die
       Sanktionen gestaffelt. Beim ersten Mal wurde die Leistung um 30 Prozent
       gekürzt, beim zweiten Mal um 60 Prozent, anschließend wurde die Leistung
       total gestrichen. Die Sanktion galt jeweils für drei Monate.
       
       Daran gab es Kritik. Der Staat müsste das menschenwürdige Existenzminimum
       immer sichern, deshalb sei eine Kürzung dieser Leistungen auch bei einem
       Pflichtverstoß nicht möglich.
       
       Das Bundesverfassungsgericht sah dies im November 2019 aber anders. Der
       Staat könnte von Hilfsbedürftigen durchaus verlangen, dass sie an der
       Überwindung ihrer Hilfsbedürftigkeit mitwirken. Entsprechende Aktivitäten
       könnten auch mit Sanktionen durchgesetzt werden, so die Richter:innen.
       Allerdings sei hier die Prüfung der Verhältnismäßigkeit besonders streng,
       weil es um Eingriffe ins Existenzminimum geht.
       
       ## 3 Vorgaben
       
       Daraus leitete das Bundesverfassungsgericht [2][drei Vorgaben für den
       Gesetzgeber] ab, die auch beim Bürgergeld zu beachten sind: Erstens ist die
       Kürzung der Leistungen um 60 Prozent oder die Totalstreichung unzulässig,
       es sei denn, Forschungsergebnisse belegen die Erforderlichkeit (was bisher
       nicht der Fall ist). Zweitens muss es bei der Kürzung der Leistung um 30
       Prozent Ausnahmen für Härtefälle (etwa psychisch Kranke) geben. Und
       drittens muss das Geld sofort wieder bezahlt werden, wenn der/die
       Arbeitslose der Pflicht doch noch nachkommt oder glaubhaft versichert, dazu
       bereit zu sein.
       
       Karlsruhe verlangte vom Bundestag nicht, das Gesetz bis zu einem bestimmten
       Zeitpunkt zu ändern. Vielmehr machte das Bundesverfassungsgericht seine
       Vorgaben mit sofortiger Wirkung zu einer gesetzlichen Übergangsregelung.
       Diese Übergangsregelung galt bis zum 1. Juli 2022.
       
       Seitdem gilt ein einjähriges Moratorium, das der Bundestag für Sanktionen
       wegen Verletzung der Mitwirkungspflichten beschlossen hat. Bei
       Meldeversäumnissen sind Sanktionen aber möglich, allerdings erst ab dem
       zweiten Verstoß.
       
       Im Bürgergeldkonzept der Ampel waren ab 1. Januar auch wieder Sanktionen
       für die Verletzung von Mitwirkungspflichten vorgesehen, aber erst nach
       einer „Vertrauenszeit“ von einem halben Jahr. In diesen sechs Monaten
       sollte es nur bei wiederholten Meldeversäumnissen Leistungskürzungen von 10
       Prozent geben.
       
       Diese Vertrauenszeit wurde im Kompromiss von Ampel und CDU/CSU nun auf
       Betreiben der Union jedoch gestrichen. Bei Verletzungen der
       Mitwirkungspflichten soll es nun schon ab dem ersten Tag des
       Bürgergeldbezugs Sanktionen geben, allerdings gestaffelt: beim ersten
       Verstoß 10 Prozent Kürzung für einen Monat, beim zweiten Verstoß 20 Prozent
       Kürzung für zwei Monate und für weitere Verstöße 30 Prozent Kürzung für
       drei Monate.
       
       Es dürfte bei diesem Kompromiss also keine Probleme mit Karlsruhe geben, da
       die Sanktionen maximal 30 Prozent betragen und sie nach Erfüllung der
       Pflicht enden und es auch eine Härtefallregelung gibt.
       
       22 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kompromisse-zum-Buergergeld/!5896435
   DIR [2] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/11/ls20191105_1bvl000716.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Rath
       
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