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       # taz.de -- Unbegleitete Minderjährige in Sachsen: Leipzig kommt nicht hinterher
       
       > In Sachsen kommen so viele minderjährige Geflüchtete an wie seit Jahren
       > nicht mehr. Weil es an Kapazitäten mangelt, werden sie kaum versorgt.
       
   IMG Bild: Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete in Leipzig
       
       Leipzig taz | Die Zahl der in Sachsen ankommenden unbegleiteten
       minderjährigen Geflüchteten ist so hoch wie seit der großen Fluchtbewegung
       2015 und 2016 nicht mehr. Bis einschließlich Oktober wurden 1.330
       minderjährige Geflüchtete ohne Begleitung in Obhut genommen – das sind mehr
       als in den vergangenen vier Jahren zusammen. Der Großteil der jungen
       Schutzsuchenden stammt aus Syrien, Afghanistan und der Türkei. Besonders
       viele unbegleitete Kinder und Jugendliche sind im September in Sachgibtsen
       angekommen: 402. Das sind fast dreimal so viele wie im gesamten Jahr 2019
       und genau doppelt so viele wie 2018.
       
       Seit dem Spätsommer suchen immer mehr Geflüchtete aus Afghanistan und
       Syrien in Deutschland Schutz – darunter viele Kinder und Jugendliche, die
       ohne ihre Familie geflohen sind. Sachsen hat bis einschließlich Oktober
       14.679 Asylbewerber:innen aufgenommen – hinzu kommen Tausende
       ukrainische Geflüchtete, die separat erfasst werden, weil sie kein Asyl
       beantragen müssen. In den vergangenen Jahren war die Zahl der in Sachsen
       registrierten Asylsuchenden deutlich niedriger, auch in den Jahren vor der
       Pandemie.
       
       Wenn Kinder oder Jugendliche ohne ihre Familie anreisen, werden sie vom
       jeweiligen Jugendamt vorläufig in Obhut genommen. In einem sogenannten
       Clearing-Verfahren wird dann entschieden, welche Unterstützung die
       Geflüchteten brauchen. Danach werden sie langfristig auf die Kommunen
       verteilt.
       
       Die Städte Leipzig, Dresden und Chemnitz sowie der Landkreis Görlitz haben
       schon weit mehr Kinder und Jugendliche in Obhut genommen, als sie laut den
       Vereinbarungen nach dem Königsteiner Schlüssel müssten. Vor allem in
       Leipzig und Chemnitz sind die Einrichtungen überlastet, wie eine Umfrage
       der taz ergeben hat.
       
       ## Mitarbeitende sprechen von Kindeswohlgefährdung
       
       In Leipzig, der größten Stadt Sachsens, gibt es nur eine Erstaufnahme- und
       Clearingstelle für geflüchtete Kinder und Jugendliche. Sie heißt „Am
       Mühlholz“ und verfügt über 48 Plätze. Im September, als besonders viele
       minderjährige Geflüchtete in Sachsen angekommen sind, hat die Einrichtung
       zeitweise 80 junge Menschen beherbergt. Anfang November waren 65
       Jugendliche in dem Haus untergebracht. Das teilte das Leipziger Jugendamt
       auf Anfrage mit. Ähnlich hoch belegt sei die Inobhutnahmeeinrichtung
       bislang nur 2015 und 2016 gewesen.
       
       Das Jugendamt Leipzig versichert, dass das Kindeswohl trotz der
       Überbelastung „zu keiner Zeit“ gefährdet gewesen sei. Die Geflüchteten
       seien 24 Stunden am Tag betreut worden, auch auf Beschulung habe man trotz
       Personalmangel nicht verzichten müssen.
       
       Fragt man die Mitarbeiter:innen der Einrichtung „Am Mühlholz“, zeigt
       sich ein ganz anderes Bild. Die Situation sei für die Jugendlichen und
       Mitarbeitenden „seit Monaten katastrophal und kräftezehrend“, antwortete
       eine Fachkraft, die ihren Namen nicht nennen möchte. „Die Jugendlichen
       schlafen zu viert oder fünft in Zimmern, die für zwei Personen ausgelegt
       sind, oder in Aufenthaltsräumen ohne Tür, ohne Privatsphäre.“ Es mangele an
       Kleidung, Hygieneartikeln und Lebensmitteln. Arztbesuche fielen aus, weil
       es zu wenig Personal gebe, um die Geflüchteten zur Praxis zu begleiten.
       Jugendliche mit ansteckenden Hautkrankheiten könnten aufgrund von
       Platzmangel nicht isoliert werden, wodurch tagtäglich die Ansteckung
       anderer Bewohner:innen riskiert würde. „Aktuell ist das Wohl der Kinder
       und Jugendlichen gefährdet“, sagte die Fachkraft. „Wir Mitarbeitenden haben
       das Gefühl, dass das Landesjugendamt wegschaut.“
       
       Damit sich die Situation verbessert, brauche es „dringend“ mehr
       Fachpersonal und Räumlichkeiten, um die Jugendlichen unterzubringen, sagte
       die Fachkraft. Außerdem fordert sie eine bessere Ausstattung, um vernünftig
       arbeiten zu können. Es fehle sogar an Kleinigkeiten wie Druckern oder
       Stempeln.
       
       Juliane Nagel, die asylpolitische Sprecherin der Linksfraktion im
       sächsischen Landtag, kritisiert den Zustand in der Leipziger
       Erstaufnahmeeinrichtung scharf. „Die heutige Situation ist das Resultat des
       massiven Abbaus von Kapazitäten nach der großen Fluchtbewegung ab 2015. Die
       Verantwortlichen müssen zur Kenntnis nehmen, dass Fluchtbewegungen in
       Intervallen wiederkommen“, sagte Nagel.
       
       ## Die Standards bei der Unterbringung wurden gesenkt
       
       Die Linken-Politikerin fordert das Landesjugendamt Sachsen dazu auf, die
       Kinder und Jugendlichen im Anschluss an das Clearing-Verfahren auf
       diejenigen Landkreise zu verteilen, die ihrer Aufnahmeverpflichtung noch
       nicht nachgekommen sind. „Die Entwicklung der Zahlen war absehbar. Das
       Landesjugendamt hätte längst stärker für ein funktionierendes
       Verteilverfahren sorgen und die Kommunen beim Aufbau von Kapazitäten
       unterstützen müssen“, sagte Nagel.
       
       Viele Landkreise in Sachsen haben bisher deutlich weniger unbegleitete
       minderjährige Geflüchtete aufgenommen, als es der Königsteiner Schlüssel
       vorsieht. Der Landkreis Vogtland zum Beispiel müsste 5,5 Prozent der in
       Sachsen ankommenden jungen Schutzsuchenden unterbringen. Mitte September
       hatte der Landkreis diese Quote erst zu 63 Prozent erfüllt. Das geht aus
       einer Antwort des sächsischen Sozialministeriums auf eine Anfrage der
       Landtagsabgeordneten Nagel hervor.
       
       Fragt man das Sozialministerium, warum das Landesjugendamt die jungen
       Schutzsuchenden so ungleichmäßig verteilt, heißt es: „Die sächsischen
       Großstädte sind für unbegleitete minderjährige Ausländer:innen
       Reiseziele. Soweit bei der vorläufigen Inobhutnahme ein Verteilhindernis
       (…) festgestellt wird, verbleiben diese an Ort und Stelle, sodass sich dies
       in der Erfüllungsquote bemerkbar macht.“ Wenn zum Beispiel ein geflüchteter
       Jugendlicher kurzfristig mit einer verwandten Person in Leipzig
       zusammengeführt werden kann, dann darf das Landesjugendamt den
       Schutzsuchenden nicht auf einen unterbelegten Landkreis verteilen.
       
       Um schnell neue Unterkünfte zu schaffen, hat das sächsische
       Sozialministerium Anfang Oktober die Standards bei der Versorgung und
       Unterbringung von geflüchteten Minderjährigen gesenkt, unter anderem die
       Einstellungskriterien für das Personal. „Das ist zunächst verständlich, um
       überhaupt Einrichtungen an den Start zu bekommen“, sagte die
       Linken-Politikerin Nagel. „Für die qualifizierte Betreuung der Jugendlichen
       ist das allerdings nachteilig. Unbegleitete minderjährige Geflüchtete sind
       besonders schutzbedürftig und brauchen nach ihrer langen, beschwerlichen
       Flucht eine gute Unterbringung, Versorgung und Betreuung.“
       
       15 Nov 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rieke Wiemann
       
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